»Act of Resistence and Repair« – Gauri Gill-Ausstellung in der Schirn

Am Anfang stand eine Nachricht. Eine bescheuerte zwar, aber leider eine alltägliche, vermutlich. Der Lehrer einer Dorfschule schlägt ein Mädchen. Ist das überhaupt eine Nachricht? Für die indische Fotojournalistin Gauri Gill war es das sehr wohl, sie wehrt sich gegen das alltägliche, schulterzuckende Hinnehmen solcher Zustände, und sie schlägt dem Verlag, bei dem sie arbeitet, eine Fotoreportage über ländliche Schulen vor. Der lehnt ab, sie kündigt und macht sich auf den Weg.
Und weil sie sich auf den Weg gemacht hat, immer wieder, über zwei ganze Jahrzehnte, sind wir jetzt Zeugen eines unermesslichen Schatzes an Nachrichten von einer anderen Welt. Wie »Alice im Wunderland« habe sie sich gefühlt, als sie, die Städterin aus der prunkenden, lärmenden Boomtown New Delhi, aufs Land kam, genauer zum Beispiel in die Wüste Thar im Norden, in Rajasthan. Die präzise Verortung der Gegenden, in denen sie war und ihre Aufnahmen machte, ist ihr sehr sehr wichtig. So, als wolle sie die Orte mit ihren Fotoarbeiten auf die Landkarte bannen, sie in die Koordinaten Indiens einbrennen, denn sie sind aus politischen und öffentlichen Wahrnehmungen weitestgehend verbannt.
Die Schirn widmet Gauri Gill mit 240 Arbeiten eine erste Überblicksausstellung ihres fotografischen Schaffens. Diese Arbeiten sind den wichtigsten Serien entnommen, zu denen sie ihre Reise-Erfahrungen zusammengefasst hat. Und wem sie ihre Erfahrungen, diese Früchte ihrer künstlerischen Suchbewegungen verdankt, macht allein schon der Einstieg deutlich, den Gauri Gill mit der Hängung in der Schirn vorgenommen hat. Es hätten die bunten witzigen Mädchenporträts sein können, die wunderbar plakativ später im Ausstellungsparcours von der Decke baumeln werden. Das wäre ein lockerer, verlockender Auftakt gewesen.
Das sind sie nicht, es sind Landschaftsfotografien aus Maharashtra in dokumentarischem Schwarz-Weiss-Grau, und sie sind übermalt von dem Warli-Künstler Rajesh Vangad in einer ganz speziellen, indigenen Technik, die eigentlich nur die Frauen der Gemeinschaft beherrschten. Mit einer weißen, aus Reis hergestellten Paste malen sie Alltagsszenen auf Wände, halten Ernten oder Rituale fest. Rajesh Vangad hingegen überführt den Gegenstand der Fotografie, einen Wald z.B., in eine Aktion, in dem er Holzlaster in das Bild malt, gefällte Baumstämme, Sägewerke, Häuser, arbeitende Strichmännchen. Die Vielschichtigkeit des Augenblicks zu bannen, in einer Fotografie nie etwas Endgültiges zu sehen, das sind die Grundprinzipien für Gauri Gills Schaffen. Es ist so, als würde ein altes Haus zu sprechen beginnen und von seiner Geschichte erzählen, hat Rajesh Vangad über Gauri Gills Arbeiten gesagt. Selbstverständlich ist das Ergebnis nicht leicht zu konsumieren, man blickt förmlich in die Schichten der Geschichte hinab. (Die 2013 begonnene Serie »Fields of Sight«).
In den Fotografien verrückt Gauri Gill das Verhältnis Objekt-Subjekt allein schon dadurch, dass sie an den Orten bleibt, die sie fotografiert. Sie sammelt nicht Ansichten, sie stellt sie her – und das geht nur, wenn die Dargestellten ihre Darstellung selbst inszenieren oder der Bildgestaltung zustimmen, so wie in ihren wohl bekanntesten und berückendsten Arbeiten »Notes from the Desert«, entstanden seit 1999 in der Wüste Thar im Westen Rajasthans. Eine ihrer sinnfälligsten und schönsten Aufnahmen gilt Jannat, zu sehen in der gleichnamigen Serie, einer vertiefenden Auffächerung von »Notes form the Desert«. Entstanden ist die 52 Fotos umfassende Serie im entlegenen Wüstendorf Barmer und zeigt das schwierige entsagungsvolle Leben der jungen Jannat, ihrer Schwester Hooran und ihrer Mutter Izmat. Jannat spiegelt sich darin in einer Glasscherbe, sie blickt zweifelnd und doch so klar. Diesen Fotos im kargen Schwarzweiß – manchmal ist das blendende Weiß der Sonne so stark, dass die Figuren zu Schemen verschwimmen und mit der Landschaft zu verschmelzen scheinen – wohnt eine so kraftvolle Poesie, eine fast altmodische Schönheit inne, dass man von der Intimität überwältigt ist – die doch keinen richtig nah an das Auge des Betrachters lässt.
Damit ist ein weiteres Geheimnis der Fotografierkunst Gills offenbart: Nähe und Distanz verschwistern sich gegen lauten Voyeurismus – und das bei einer so voyeuristischen Kunstform. Völlig wunderbar thematisiert diesen Zusammenhang die Serie »Acts of Apperance«, in der es ausnahmsweise mal bunt wird. Hier hat Gauri Gill mit Pappmaché-Künstler*innen der Adivasi-Gemeinschaften der Kokna und Warli in Maharashtra zusammen gearbeitet. Sie stellen traditionelle Masken für rituelle Tänze her, doch Gill bat sie, Alltagsgegenstände wie einen Fernseher oder ein Radio zu formen, menschliche Antlitze in Trauer, Wut und Liebe, und Tiermasken. Diese Masken konnten sich sie Porträtierten in improvisierten Alltagszenen überstülpen – und so entstand ein dörfliches Bild voller Humor und Witz, gleichzeitig verrät es auch viel über die kläglichen Lebensumstände der indigenen Gemeinschaft.
Berührend auch der Schlusspunkt, denn er verrät, wie nah sich Gauri Gill und die von ihr besuchten Gemeinschaften standen. Oder wäre es irgendwem gestattet worden, fast kaum wahrnehmbare Grabstätten in der Wüste zu fotografieren oder die Geburt eines kleinen Mädchens?
Nein, Indien versinkt nicht in bunten rauschhaften Farben, der Alltag ist besonders für Frauen extrem hart, patriarchale Strukturen prägen das Leben. Gauri Gills Perspektive ist eine feministische, eine ethnografische, eine politische, eine Zeitzeugenschaft. Sie birgt Erkenntnisse. Dieser kostbare Schatz, den die Schirn hier ausbreitet, macht aber auch klar: Ihre Arbeit geht weiter, das ist ganz einfach wunderbar.
Und Dorfschulen? Ja, Dorfschulen hat sie eine ganze Hundertschaft besucht. Einmal quer über das gesamte Land.

Susanne Asal/ Foto: Gauri Gill: Untitled (74),
aus der Serie »Acts of Appearance«
© Gauri Gill
Bis zum 8. Januar 2023:
Di., Fr.–So., 10–19 Uhr; Mi., Do., 10–22 Uhr
Mit Begleitprogramm.
www.schirn.de

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