Deutsche Geschichte, kondensiert
Ereignisse, heißt es in der Vorbemerkung von »Alias Toller«, seien wie »Steine, die ins Wasser fallen. Beim Aufschlagen reißen sie die Oberfläche auseinander, Tropfen spritzen in die Luft. Der Stein ist, wenn er untergeht, noch für ein paar Momente sichtbar; dann verschwindet er, geräuschlos sinkt er hinab, kommt unten auf, gerät in Vergessenheit, man müsste tauchen, um ihn zu bergen. Und doch, die Ereignisse existieren weiter. Sie haben Wellen gebildet. In konzentrischen Kreisen schwappen sie nach außen, sie überlappen sich, und manchmal, wenn du am Ufer stehst, hörst du sie an die Steine schlagen.«
Der erste Stein, den der für seine Kurzgeschichten mehrfach ausgezeichnete Ulrich Effenhauser in seinem Debütroman ins Wasser wirft, ist »die Villa«. Auf knappen zweieinhalb Seiten entwirft er deren bis in die Gegenwart reichende Geschichte. Sie wurde 1923 erbaut, gehörte der Familie Waigner. Ihr Besitzer war Bankier. Und Jude. 1942 wurde er im Konzentrationslager Mauthausen umgebracht. Die Villa fiel, wie Hunderte jüdischer Immobilien, an den nationalsozialistischen Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren. (Spätestens hier ist man als Leser versucht, dies zu verorten, dazu aber muss man selbst tätig werden, ein klein wenig forschen. Der gelernte Historiker Effenhauser macht dies das Buch über einige Male, er versagt oft den Komfort der sofortigen Ortsbenennung. Diese Irritationen sind produktiv, sie lassen einen selbst Ermittlungen anstellen, betonen aber auch das Universelle des Erzählten.)
Eine Villa als Brennpunkt
Die Villa liegt in Prag. Um das Anwesen bewarben sich hochrangige Nazis, den Zuschlag erhielt der Rektor der Universität; für seine Umbaumaßnahmen gab es sogar Zuschüsse, wurden doch Skulpturen und Wandgemälde, »jüdische Kunst und Architektur«, vernichtet. 1944 erschoss sich dieser Rektor im Arbeitszimmer der Villa, sein Sohn war in das Stauffenberg-Attentat verwickelt gewesen, und der Vater glaubte, durch seinen Freitod die deutsche und die Familienehre rein halten zu können. Nach ihm zog der 26-jährige SS-Untersturmführer Hanns Martin Schleyer ein, verantwortlich für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Rekrutierung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich. Nur zwei Absätze weiter wird die Leiche des späteren Vorstandsmitglieds der Daimler-Benz AG am 19. Oktober 1977 in der Rue Charles Peguy in Mülhausen im Kofferraum eines grünen Audi 100 gefunden, drei Schüsse im Hinterkopf. Deutsche Geschichte, kondensiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Geheimdienst der CSSR die Villa in Beschlag. Die Zusammenarbeit mit Nazis war keineswegs Tabu, von der Villa Waigner aus wurde zum Beispiel der berüchtigten Schlächter von Lidice, der SS-Obersturmbannführer Max Rostock, bei seiner Agententätigkeit im Westen geführt. Nach dem Ende des Kommunismus wurde dann den Verbrechen dieser Zeit von ebendieser Villa aus nachgespürt. 2008 kam es zum Prozess gegen den früheren stellvertretenden Innenminister und Staatssicherheitschef Filip Malina und den früheren stellvertretenden Generalstaatsanwalt Adam Babis. Von überall her versuchte man Beweise gegen die beiden Angeklagten zu bekommen; mit der Bitte um Zusammenarbeit wandte man sich auch an die bundesdeutschen Behörden. Solch einen Brief erhält im März 2008 die Hauptperson des Romans, der Leitende Kriminaldirektor Alwin Heller, Dezernat Fallforschung, im Bundeskriminalamt Wiesbaden. Wir sind auf Seite 7 – und mitten im deutschen Dschungel. Heller wird durch die Anfrage an seinen ersten Fall erinnert, dreißig Jahre her. Das Buch wird ihn in die Villa Waigner führen, zu Schleyer und zu einem mysteriösen »Vierten Mann«, der an einem gefilmten SS-Massaker beteiligt war.
Anschlag auf einen Musiklehrer
Das Wasser- und Wellen-Motiv taucht bald schon wieder auf, in einer großartigen Passage. Es sind zweieinhalb Seiten (8 bis 10), in denen Heller das trockene Amtshilfeansinnen liest, dann aufsteht, ans Fenster geht, die vom Regen gebildeten Pfützen betrachtet, über seine Arbeit, ihre Vergeblichkeit, das Wesen von Verbrechen und Gerechtigkeit sinniert, die Deutschlandfahne flattern sieht – eine Passage, mit der sich Literaturpreise gewinnen lassen. »Die tropfenden Äste. Die rotweiße Schranke. Die vielen Regenbäche an der Scheibe, manchmal stehen sie still, dann wieder rinnen sie umso schneller hinab.«
Er ist nicht Herkules, auch wenn er das immer geglaubt hat. Das Verbrechen sieht er als »eine schwangere Ratte, die durch die Welt schleicht. Seine Berufung ist es gewesen, sie unschädlich zu machen. Er hat geglaubt, es sei möglich. Dann hat er erkannt, dass er ohnmächtig ist; die Ratten vermehren sich in der Nacht. Sie bauen ihre Nester. All seine Besessenheit hat nichts dagegen ausrichten können. Die Welt ist schlecht geblieben. Die Akten häufen sich. So viele Fälle ungelöst.« Später, ganz am Ende wird es heißen: »Die schlimmsten sind uns immer ausgekommen.«
Vom Bombenanschlag auf einen scheinbar völlig unbescholtenen Musiklehrer aus entwickelt sich eine Reise in die deutsche Vergangenheit, intelligent erzählt, sparsam, angenehm spröde und doch reich – der Roman hat 168 Textseiten, dazu eine äußerst informative Nachbemerkung, die auf einen authentischen Fall aus der ostbayerischen Provinz verweist, und, sehr verdienstvoll, einige Hinweise auf weiterführende Texte.
Ulrich Effenhauser hat ein wunderbares Auge für historische Details. Tupft sie oft nur. Seine Melancholie und der elegische Ton erinnern an die historischen Agentenromane von Alan Furst (der leider seit Jahren schwächelt). Hellers erster Fall, jener Anschlag auf den Musiklehrer – mit einem Zünder aus dem Gerätekombinat Suhl, ein Hinweis auf die Verbindungen der Rote Armee Fraktion zur DDR – verbindet sich mit der Ermordung seines Vorgesetzten, der heimlich nach Prag gereist war. Theodor Kolnick, Erster Hauptkommissar in Regensburg, war nicht der, als den er sich ausgab. Heller, den Kolnick sich ausdrücklich als Nachfolger wünschte, verliebt sich in dessen Tochter Charlotte. Es wird ein scheues, letztendlich unglückliches Verhältnis. Auch hier glänzt Effenhauser als Erzähler.
Spielball der Nacht
Ein altes Foto führt die beiden nach Prag, zu einem Kameramann und Fotografen, in alte und gegenwärtige Abgründe. Es ist die Zeit der RAF, der Abrechnung mit der Nazi-Generation, der Beharrungskräfte des Systems. Heller liest Charlotte zuliebe Walsers »Ein fliehendes Pferd«, geht mit ihr gar zur Autorenlesung. Effenberg macht daraus ein kleines Kabinettstück (Seite 105). Der Satzspiegel dieses Buches ist ein Fingerbreit weiter als normal, man muss in die Zeilen steigen wie in einen Fluss. Effenberg hebt oft eine neue Passage in einem anderen Ton an, quasi aus einem anderen Blickwinkel, aus einer anderen Tonart, er wechselt die Rhythmen und den Fokus, hat ein Auge auch für die Natur, manchmal nachgerade an Adalbert Stifter gemahnend. »Der Mond tauchte wieder im Rückspiegel auf«, beginnt etwa die Seite 134, er verschwindet hinter Wolken oder Bergketten, verändert ständig Richtung und Größe, ist »der Spielball der Nacht«, was, wie Charlotte Heller verrät, ein Zitat der Malerin Charlotte von Kolnik ist. Der tanzende Mond allein ist in diesem ersten Absatz des neuen Kapitels das Indiz, dass die beiden unterwegs sind. Dann überqueren sie den Brenner, hören auf der Höhe von Meran die ersten italienischen Nachrichten, lösen sich bei Assisi ab, sind – nun offenkundig – weiter nach Süden unterwegs. Nach Rom. Wohin sie einen Verdächtigen, den Toller des Titels, verfolgen. Ihr gerade gestohlenes Auto explodiert. Bei seiner Rückkehr findet Heller seine Suspendierung, ebenso deren Aufhebung und die Weglobung ins BKA nach Wiesbaden.
Nein, genug, man muss das selber lesen. »Alias Toller« ist eine Lektüre, die einen ihrer Vortragsart und Dichte wegen längere Zeit verfolgt.