Es ist das vierte Buch von Annie Ernaux, das jetzt bei Suhrkamp erscheint. Die Schriftstellerin wurde 1940 in der tiefsten französischen Provinz geboren; sie ist aufgewachsen in der Nachkriegszeit, in einem kleinen Kaff mit siebentausend Einwohnern, auf halbem Weg zwischen Rouen und der Atlantikküste. Auch in dem neuen Buch (im Original 1997 erschienen) erzählt Annie Ernaux wieder von der traumatischen Geschichte ihrer Herkunft, auf der schmalen Grenzlinie zwischen Arbeiterklasse und unterstem Kleinbürgertum, von der Angst vor dem sozialem Abstieg und der Zuversicht, die sich Mutter und Tochter damals vom Glauben erhofften. Das Kind wird auf eine katholische Privatschule geschickt. Absicht: Aufstieg. Hauptfach: Beten.
Es ist nicht der Effekt, auf den Annie Ernaux mit ihrem ersten Satz zielt. Es ist die Quintessenz ihres Buches: das Drama der sozialen Herkunft, das die Familie wie auf einem Pulverfass leben lässt. »An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.« Die Mutter, maßlos überfordert von dem Existenzkampf, den sie tagtäglich aufs Neue zu bestehen hat, als Geschäftsfrau mit kleinem Lebensmittelladen, als Kneipenwirtin, die allabendlich in der angeschlossenen Gastwirtschaft ihre Gäste bedient, als Mutter, die den sozialen Aufstieg der Tochter um jeden Preis befördern will und als Ehefrau eines Arbeiters, der mit seinem Dasein an sich zufrieden ist. Sie lief in der Küche umher und machte dem Vater Vorwürfe. Der antwortete nicht. Doch: »Mit einem Mal begann er krampfartig zu zittern und zu keuchen. Er stand auf, und ich sah, wie er meine Mutter packte, sie in die Kneipe schleifte und mit rauer, fremder Stimme schrie«. Die junge Annie floh in den ersten Stock. Dort hörte sie, wie die Mutter um Hilfe schrie. Sie rannte zurück. »In der schlecht beleuchteten Vorratskammer hatte mein Vater meine Mutter mit der einen Hand an der Schulter oder am Hals gepackt. In der anderen hielt er das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte.« Als wäre nichts geschehen, machten sie hinterher «zu dritt eine Radtour aufs Land«.
Monatelang, vielleicht sogar jahrelang habe sie auf die Wiederholung dieser Szene gewartet. Wenn die Eltern durch ein Lächeln oder Lachen, zeigten, dass es doch noch Zuneigung gab, fühlte sie sich in die Zeit vor dieser Szene »zurückversetzt«. Aber immer fürchtet sie die Wiederholung, zu der es allerdings nie kam. Fünfzehn Jahre später starb der Vater.
Annie Ernaux sucht auch in diesem Buch wieder nach den Spuren ihrer Geschichte und findet, zum Beispiel, Fotos, auch ein Messbuch, »dessen Aufbewahrung über alle Umzüge hinweg nicht unbedeutend ist«, ein Beweis nämlich für die religiöse Welt, die einmal die ihre war, die sie aber, beim Schreiben vierzig Jahre später »nicht mehr nachempfinden kann«.
Denn das spürt sie deutlich: »die Frau, die ich 1995 bin, kann sich nicht in das Mädchen von 52 hineinversetzen, das nur seine Kleinstadt kennt, seine Familie, seine Privatschule, das Mädchen, das nur einen begrenzten Wortschatz hat«.
Und das genau in jener Zeit spürt, wo es herkommt und wo es nicht hingehört.
Annie empfindet plötzlich Scham. Noch: »Mit zwölf Jahren lebte ich in den Konventionen und Regeln dieser Welt und konnte mir nichts anderes vorstellen«. Bis dahin hatte sie ihre Gegend, die »vage, aber für alle verständlich bei uns genannt« wurde, noch nie verlassen.
Doch bald bricht ihre kleine Welt endgültig auseinander und sie sitzt zwischen den Trümmern.
Sie weiß, dass es »keine wirkliche Erinnerung an sich selbst« geben kann. Deshalb sucht sie nach den Worten, mit denen sie über sich selbst und ihre damalige Welt einmal nachgedacht hatte.
Annie Ernaux hat ein kleines, schönes, ein notwendigerweise unfertiges, aber notwendiges Buch geschrieben. Für sich selbst. Und für uns.
Sigrid Lüdke-Haertel
Annie Ernaux: Die Scham.
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 110 S., 18 €