Als der Kunstlehrer Samet (Deniz Celiloglu) im verschneiten Ostanatolien ankommt, wenn er hinter dem abfahrenden Bus zu sehen ist und sich von dem geraden Horizont zwischen der weißen Ebene und dem weißen Himmel auf die starre Kamera zubewegt, lässt sich am Anfang bereits erahnen, dass es dieser Mann in dieser Umgebung schwer haben wird.
Vier Jahre hat Samet schon an der Provinzschule verbracht. Er hofft, dass seine Dienstpflicht hier bald beendet ist, dass er nach Istanbul zurückkehren und dort unterrichten darf. Mit der Zeit ist sein Frustrationsgrad gestiegen – keine gute Voraussetzung für die Ausübung seines Berufs. Dennoch mögen ihn seine Schüler.
Eine besondere Sympathie verbindet ihn mit der kleinen Sevim (Ece Bagci), in deren Schultasche bei einer unangekündigten, allgemeinen Klassenuntersuchung ein Liebesbrief gefunden wird. Unklar bleibt, an wen er gerichtet ist, aber alles deutet darauf hin, dass Samet det Adressat ist. Der liest ihn, leugnet das aber, als Sevim die Herausgabe verlangt, und behauptet, er habe ihn ungelesen vernichtet. Sevim glaubt ihm nicht.
Zusammen mit ihrer Freundin klagt sie Samet und dessen Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) beim Direktor wegen unsittlicher Berührungen an. Der gibt den Vorfall an den Direktor des Schulamtes weiter, und der versichert wiederum, die Angelegenheit möglichst unauffällig, aber formal korrekt zu erledigen.
Die beiden Lehrer reagieren miss-trauisch gegenüber Kollegen und Schülern, zumal ihnen die Urheberinnen nicht preisgegeben worden sind. »Lieber die Schafe in den Bergen hüten als die in der Schule«, sagt Kenan, der Sohn eines Schäfers aus der Gegend. Großstädter Samet schickt erst einmal Sevim vor die Tür, nachdem er im Vertrauen erfahren hat, dass sie hinter der Sache steckt. Und er verbündet sich mit den Jungs in der Klasse, was man zwar als menschlich verständlich, aber als pädagogisch ziemlich daneben ansehen muss.
Nach den jüngsten Empfehlungen schulischer Konzepte à la »Radical – Eine Klasse für sich« oder »Herr Bachmann und seine Klasse« habe ich mit Erleichterung gesehen, wie Regisseur und Co-Autor Nuri Bilge Ceylan das Schuldrama zur Seite geschoben hat, um sich auf Samet, Kenan und deren Kollegin Nuray aus einer benachbarten Schule zu konzentrieren.
Merve Dizdar spielt Nuray, die bei einem Anschlag ein Bein verloren hat, mit der forschenden Distanz einer Frau, die sich der wahren Empfindungen ihrer Gesprächspartner erst versichern will, bevor sie diese als ihre Freunde ansehen kann. Für die bemerkenswerte Leistung in dieser Rolle ist sie in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet worden.
In der Dreiecksbeziehung zeichnen sich die Konturen der Personen zunehmend deutlicher ab. Kenan flirtet unmissverständlich mit Nuray. Samet hält sich zurück, weil er, immer noch auf eine baldige Versetzung hoffend, sich nicht binden will. Trotzdem kommt es zwischen ihm und Nuray zu einer grundsätzlichen Diskussion über gesellschaftliches Engagement und das Recht, sich zurückzuziehen und sich nicht zu engagieren. »Muss jeder ein Held sein?« fragt Samet und verneint seine Frage. Ein Held ist Samet sicherlich nicht, vielleicht nicht einmal ein akzeptabler Pädagoge. Aber damit ist seine Person nicht erklärt.
Dem vor allem in Cannes erfolgreichen türkischen Filmemacher Ceylan, der eine Ausbildung als Chemieingenieur und Elektrotechniker hinter sich gebracht hat, bevor er sich ganz dem Kino widmete, geht es darum, ein möglichst uneindeutiges Bild von seinen Protagonisten zu zeigen. Welche Hoffnungen stecken in ihnen?
Zuletzt hat er hierzulande mit »Once Upon a Time in Anatolia« und »Winterschlaf« ein überschaubares Arthouse-Publikum gefunden. In seinem immer interessanten dreistündigen Werk mit dem poetischen Titel »Auf trockenen Gräsern« erreicht er mit philosophischen und psychologischen Ausführungen eine literarische Qualität. Mit Sätzen, die jeden Roman schmücken würden, wie etwa »Die Jugend ist etwas Wundervolles. Es ist eine Schande, dass man sie an die Jungen vergeudet«. Aber auch mit Ernsthaftem über die unsichere politische Lage in Anatolien und über die Probleme, die das Leben dort mit sich bringt.
Nach der theoretisch überfrachteten Diskussion von Samet und Nuray scheint Ceylan eine ironische Distanz angebracht gewesen zu sein. Da verlässt Samet/Celiloglu den Filmset, um in der Küche des Studios eine Tablette einzunehmen. Als er wieder zurückkommt, geht es mit der Filmhandlung ungerührt weiter.
Am Ende scheint Samet sich seinerseits mit der Problemschülerin versöhnt zu haben. In seinen Gedanken zumindest.