Es sprengt ihm den Schädel
Treffender gehe es eigentlich nicht, meint Marion Tiedtke, stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin am Schauspiel Frankfurt, und beglückwünscht sich und ihren Chef Anselm Weber damit insgeheim, vor nun schon zwei Jahren William Shakespeares »Richard III« und Georg Büchners »Woyzeck« zum Auftakt der neuen Intendanz gewählt zu haben. Klassiker, die Macht und Ohnmacht in der Gesellschaft mit zwei Antipoden thematisieren, wie es sie radikaler auf der Bühne nicht gibt. Und die genau deshalb weit aktueller sind, als man das 2015 hätte ahnen können. Wer hätte damals an eine Richardisierung der Weltpolitik, an eine solche Ausbreitung »narzisstischer Machtstrukturen« gedacht, wie Tiedtke die exzessiven Selbstinszenierungen von Trump, Erdogan & Co. umschreibt? Aber auch die Verelendung am unteren Ende der Gesellschaft eskaliert, wo ausgehöhlte Sozialsysteme das Unglück den Einzelnen zu einem Überlebenskampf überlassen, für den Woyzeck wie kein anderer steht.
Dieser ist unser Thema, zumal Tiedtke die Inszenierung von Roger Vontobel dramaturgisch betreut. Der brave Soldat, dem da unter Extrembedingungen beim Militär die Nerven blank gelegt werden und schließlich durchgehen, werde nicht nur als entwürdigtes Opfer prekärer Lebensverhältnisse – und vom Dichter und Mediziner Büchner sezierter klinischer Fall – zu sehen sein. Woyzeck sei auch eine »Lichtgestalt«, die extrem sensibel den Zustand der Welt wahrnehme: »Es sprengt ihm einfach den Schädel«.
Vontobel interessiere das Fragmentarische an dem nie vollendeten Werk, spiegele sich darin doch auch die Erfahrung einer völlig fragmentierten Welt. Woyzeck spüre diesen Sinnverlust, der jeden auf seine bloße Existenz zurückwerfe: »Er ruft die Bibel an in einer Welt, die Gott längst verlassen hat«. Doch erst als er glaube, nun auch noch Marie, seinen letzten Halt, zu verlieren, werde Woyzeck zum Mörder an der Geliebten. Büchner finde für das Gefühl der Ohnmacht seines zwischen Wahn und Wirklichkeit wankenden Helden eine Sprache, wie sie dichter und präziser nicht denkbar sei: »Es ist kein Wort zu viel und keins zu wenig«, so die Dramaturgin. Vontobels Inszenierung ziele darauf, diese Intensität mit Musik zu verflechten und durch eine live eingespielte Tonlandschaft des Komponisten Orm Finnendahl zu steigern.
Die Titelfigur hat der 40 Jahre alte Vertreter einer neuen Regisseursgeneration spektakulär mit Jana Schulz besetzt, eine der spannendsten ihrer Zunft und von Beginn beider Karriere an feste Größe seiner Arbeiten. Schulz, die dafür bekannt ist, ihre Rollen ohne jede körperliche Schonung auszureizen, sei geradezu prädestiniert, das Zerbrechliche und das Zerbrechen dieses Woyzeck herauszuarbeiten, ist Tiedtke überzeugt. Und nicht nur sie: Sie sprenge die »Grenzen jedes gendergebundenen Spiels« und präsentiere »den Ausnahmezustand des Seins«, hieß es zur Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Rings an sie.
Aber nicht nur Woyzeck, jede Figur werde von Vontobel ernst genommen. Allen voran die vor unerfüllter Lust berstende Marie, mit der Friederike Ott, die in Wiesbaden ihre Karriere begann und nach sechs Jahren Residenztheater München ins Rhein-Main-Gebiet zurückkehrt. Wie auch Andreas Vögler, früher mal Darmstadt, als Tambourmajor, und der Bochumer Matthias Redlhammer, der im letzten Schweeger-Jahr am Schauspiel war, als Woyzecks Arzt. Über die Bühne aber wird noch nix verraten.