Freies Schauspiel Ensemble: »Atropa«
Groovy, groovy Iphigenie: »Let there be love, let there be wind«. Im coolen Swing des Nat-King-Cole-Songs wiegt sich Agamemnons flügge Tochter der Hochzeitsnacht mit dem tollen Achill entgegen. Doch es braucht auch Wind, damit die griechische Flotte mit ihrem Superstar gegen Troja ziehen kann, um den Raub der schönen Helena zu rächen. Den groben Plot setzen wir hier mal voraus.
Im vorderen Teil der Parkettbühne des »Titania« stehend, ahnt Iphigenie (Kim Hagspihl) noch nicht, daß das mit Achill nix wird und ihr Vater sie wegen der Flaute den Göttern opfern will, weil das Heer sein persönliches Zeichen verlangt. Derweil hadert von düsteren Visionen und einer weißen Stola umhüllt – Spot aus, Spot an – im Hintergrund Helena (Michaela Conrad) mit ihrem Schicksenschicksal in der Fremde, weil sie nur noch begehrt wird, aber nicht mehr geliebt. Der belgische Dramatiker Tom Lanoye stellt schon in der Eröffnungsszene von »Atropa. Die Rache des Friedens. Der Fall Trojas« die Weichen auf jene, denen Krieg vor allem angetan wird: die Frauen. Daß ihm dabei überraschend schlüssige Aktualisierungen des 2.500 Jahre alten Stoffs gelingen, macht den Reiz seines großartigen Stückes aus, das die Dramen des Euripides und des Aischylos scheinbar mühelos mit der Kriegsrhetorik eines George W. Bush und Donald Rumsfeld verbindet. Diesen fetten Theaterfisch an Land gezogen zu haben, ist allein ein Coup für das Freie Schauspiel Ensemble.
Vom Schlachtenheros Agamemnon (Adrian Scherschel), einziger Mann des Stücks, bleibt bei Lanoye nicht viel mehr als eine funktionale Hülle im dunklen Anzug, die Verkörperung einer ungnädigen Staatsraison. Dort, wo er Vater, Mann und Mensch ist, kann er einzig Iphigenie überzeugen. Sie stirbt als Märtyrerin für die Freie Welt. Vor seiner Gattin Klytämnestra (Bettina Kaminski) und den gefangenen Troerinnen verpuffen seine Argumente.
Längs einer weißen Plane hat Regisseur Reinhardt Hinzpeter sechs den Tod verheißende Öl-Kanister platziert, deren Inhalt, ein verdünnter Rote-Grütze-Extrakt, sich erst über Iphigenie, später über die Beutefrauen des feindlichen Herrscher-Clans ergießt: Hekabe (Carmen Wedel), Andromache (Naja Marie Domsel), Kassandra (Hagspihl) und auch über Helena. Während sich das Blutbad mit Ansage in individueller Würde vollzieht, läßt Hinzpeter die infernalischen Schrecken des Krieges an anderer Stelle spüren. Beim Tod des Hector-Säuglings Astyanax, den der Feldherr – er kann mal wieder nicht anders! – von den Türmen Trojas schmettert, geht es Richtung Schmerzgrenze.
Das hat seine Berechtigung. Daß es auch sonst öfter laut wird, scheint nicht immer zwingend. Und gilt gewiß nicht für den Frauenflüsterer Adrian Scherschel, der im Fokus der Inszenierung steht und einen Politiker gibt, dem man die privaten Gewissensbisse abnimmt, so gewandt er sich öffentlich auch – mit Merkels Fingerspitzdach – verkauft. Bettina Kaminski hat in den intimen Gesprächszenen mit ihm die schönsten Momente, Kim Hagspihl spielt energiegeladen und gibt in der Doppelrolle ein beachtliches Debüt. Der Frankfurter Oscar 2012 für die beste Nebenrolle aber gebührt Naja Marie Domsel als Andromache. So klar in der Sprache (wie man sich das von allen wünschte), so intensiv im Spiel haben wir die Schauspielerin noch nicht gesehen. Ein starkes Stück und ein Freie-Szene-Muß.