Dem Hasen auf der Spur
Den meisten fällt zu »Mein Freund Harvey« gewiss James Stewart ein, der Star der 1950 verfilmten Komödie von Mary Chase. Ins Kino durfte das 1944 uraufgeführte Stück aber erst nach seiner Theaterkarriere. Auch Stewart gab seine Glanzrolle als Elwood P. Drowd erst am Broadway und dann auf Zelluloid.
Elwood ist ein reicher, ausgesucht höflicher Mann mittleren Alters, der sich in Gesellschaft des mannshohen weißen und nicht minder gesitteten Hasen Harvey wähnt, den er jedem als seinen Freund vorstellt, wiewohl nur er selbst ihn sieht. Doch in entwaffnender Freundlichkeit verkehrt der Maniker jedes negative Ansinnen in sein Gegenteil. Und wiewohl Elwood bei seinen geliebten Kneipengängen über die Maßen spendabel ist und ausgenutzt wird, schafft es der sprechende Hase, ihn zu lenken. Ganz wie sein Artgenosse bei Alice im Wunderland, ist Harvey ein Puka, eine sprachbegabte mythische Gestalt.
Der nun aus der Bad Vilbeler Burgbühne aufgeführte Evergreen erzählt, wie Elwoods Schwester Veta den scheinbar verrückten Bruder in ein Sanatorium abzuschieben versucht, weil seine Hasen-Halluzination die Familie gesellschaftlich zu isolieren droht und die Chance, seine Nichte Myrtle Mae zu verheiraten, torpediert. In der Klinik aber verschwinden die Grenzen zwischen normal und anormal, muss die aufgeregte Veta doch erleben, wie man sie dort unversehens selbst zur Patientin erklärt, während Elwood höchstes Ansehen genießt. In den Turbulenzen der sich immer heftiger zwischen draußen und drinnen, normal und anormal verstrickenden Handlung, wird der imaginäre weiße Hase schließlich der Schwester und gar dem Psychiater zur veritablen Größe. Chases hintersinnige Komödie ist nicht nur ein Plädoyer gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung abweichenden Verhaltens, sondern auch ein starkes, vom Misstrauen gegen die Psychologie getragenes Votum gegen persönlichkeitsverändernde Eingriffe der Psychiatrie.
Dieses untergründige Anliegen bildet über alle Gags und Gimmicks hinaus den Kern von Adelheid Müthers geglückter Inszenierung. Brillant besetzt hat sie die Hauptrolle mit dem zwar gesetzten und leicht tüttelig agierenden Peter Albers, dem man das grenzenlose Zutrauen in seine Mitwelt jederzeit abnimmt. Für seine Schwester hat die Regie zur Gaudi des Publikums Volker Weidlich vollbusig auf die Charley‘s-Tante-Schiene geschickt. Mit der eher dümmlichen Giftschnecke Myrtle Mae hat Eva Kapser, die hier schon eine tolle Julia gab, dieses Mal keinen einfachen Part, dafür kommt Alice von Lindenau als gleichermaßen kluge und attraktive Arzthelferin Ruth groß in Fahrt. Auch Heinz Harth bleibt als kauziger Taxifahrer bestens in Erinnerung. An Johnny Müllers Anstaltswärter sticht fraglos die Elvis-Tolle heraus, doch lässt sich über die Figur schon im Film kaum (noch) lachen.
Die Bühnenbauer (Liloth Hegi/Marie Therese Cramer) haben einen großen, drehbaren Würfel ins Zentrum gestellt, der sich mit Lichteffekten und wenigen Möbeln zum Foyer eines Herrschaftshauses oder zum Empfangsraum einer Sanatoriums wandeln lässt. Die Szenenwechsel vollzieht das Ensemble spielend in kleinen Choreografien. Auch diese werden in Vilbel begeistert beklatscht.