Sie fangen mit den Nachrichten an. Mit Schlagzeilen zu Klima, Krieg und Kontrollwahn aus einer ins Totalitäre trudelnden Welt. Darunter ist auch die Meldung, dass George Orwells 1948 erschienener Roman »1984« nach dem Amtsantritt von Donald Trump eine Zeit lang die Verkaufshitparade von Amazon anführte.
Die Zukunftsvision des britischen Autors hat indes nicht erst seit – und auch nicht allein wegen – Trumps Präsidentschaft neue Aufmerksamkeit gefunden. Die Jahresziffer 1984 und der Slogan »Big Brother is watching you« sind längst zeitlose Metaphern für Manipulation, Überwachung und Kontrolle. Dass Winston Smith, der Protagonist des Romans, als Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums alternative Wahrheiten produziert, gibt 1984 gar den Touch einer Realdystopie.
Gründe genug also für viele Theater, den Roman als Spielvorlage zu nutzen, wie zuletzt in Frankfurt Sarah Kortmann im Landungsbrücken-Theater (Strandgut 10/2018). Für die Vilbeler Burgfestspiele inszeniert nun Milena Wichert auf der kleinen Bühne des Theaterkellers »1984« und greift dazu auf eine – gekürzte – Theaterversion des Briten Alan Lyddiard (Übersetzung: Michael Raab) zurück.
In den Mittelpunkt ihrer 70-minütigen Fassung hat die Studio-Naxos erprobte Regisseurin die Bewusstwerdung und Radikalisierung Winstons sowie seine ungeheure Erfahrung körperlicher Nähe mit Julia gestellt. In einer festen Rolle, der des Protagonisten, ist von den vier Schauspielern lediglich Felix Lampert zu sehen. Seine drei in mausgrauem Einheitslook gekleideten Mitspieler teilen sich nicht nur alle anderen Figuren (Barbara Dussler/Julia Friede (Julia), Christian Manuel Oliveira (O’Brian) und Hendrik Vogt (Antiquitätenhändler), sondern agieren auch von außerhalb als Chor und Erzähler.
Wicherts Zugriff präsentiert uns Winstons Ausbruchsversuch aus dem System als Falldokumentation. Der Zuschauer blickt dabei in eine Art Raumschachtel aus transparenten, verschiebbaren Stellwänden (Bühne: Dorothea Mines), die auch als Projektionsfläche für Bilder, Videos (Céline Keller) und Schatten fungieren. Szene um Szene erleben wir das Begreifen Winstons – beim wöchentlichen Hass-Meeting, im Büro mit Kollegen und im nur vermeintlich nicht überwachten Liebesnest beim Apotheker.
Angetrieben von dumpfen metallischen Beats und Rhythmen (Sounddesign: Louisa Beck) entwickelt das Quartett einen gewaltigen Sog. Bei aller Spannung, bleibt der Blick auf die Mechanismen der Anpassung, der sich Winston widersetzt, aber mit der Frage präsent, wo denn unsere Grenzen heute verlaufen. »Solange wir leben, sind wir verdammt, mit uns selbst zusammenzuleben«, wird Hannah Arendt zitiert. Trotz Hilfsangebot von Siri und Alexa nicht nur ein Jugendthema.