Die faszinierende Geschichte von einem Maultierzüchter, der dem Ruf seiner Sehnsucht folgt

Carys Davies, in Wales geboren, in England aufgewachsen, hat viele Jahre in den USA gelebt. Sie kennt also den Weg, den viele ihrer Landsleute im 19. Jahrhundert gegangen sind. Die Verlockung der neuen Welt. Sie hat, bislang nicht übersetzt, einige Bände mit Kurzgeschichten geschrieben, und jetzt, aufs Rentenalter zusteuernd, ihren ersten Roman, mit dem ebenso kurzen wie vieldeutigen Titel: »West«.

Cyrus Bellmann ist ein Romantiker. Er folgt einem Traum. Nachdem er in der Zeitung von einem unglaublichen Fund, einem riesenhaften Tierskelett, gelesen hatte, fand er keine Ruhe mehr. Bevor der Mythos des »Go west« entstanden war, machte er sich von Pennsylvania auf in den Westen, nach Kentucky. Ihn lockte nicht, wie nur wenig später Tausende und Abertausende das Gold. Er wollte kein Land besiedeln, brauchte keine großen Weideflächen. Er folgte einer Schimäre.
Cyrus, der auf einer kleinen Farm in Pennsylvania lebt, liest 1815 in einer Zeitung von diesem Knochenfund »eines unbekannten Wesens mit Zähnen so groß wie Kürbisse, meterbreite Schulterblätter und einem Gebiss, das aus einem mannshohen Kopf stammen musste«. Die ungeheuerliche Entdeckung im »salzigen Schlamm« lässt ihn nicht mehr los. Er hatte »die Gewissheit, dass er nicht bleiben konnte, wo er jetzt war«. Cyrus, dessen Frau vor acht Jahren starb, lässt seine Tochter Bess, zehn Jahre alt, in der Obhut seiner strengen, aber bibelfesten Schwester Julie. Julie ist empört über den Dummkopf. Zu Bess sagt sie: »Erwarte nicht, ihn jemals wieder zu sehen … vergiss ihn.« Ein Versprechen gibt der Vater seiner Tochter: er will ihr regelmäßig schreiben und »die Briefe bei jeder passenden Gelegenheit einem Händler oder Reisenden übergeben, der sie nach Osten« mitnimmt. Der Weg nach Westen ist gefährlich, es gibt kaum Landkarten. Überall lauern Gefahren. Cyrus muss durch Indianergebiet. Dafür hat er eine Blechkiste mit Krimskrams mitgenommen: Knöpfe, Perlen, bunte Bänder, Tabak. Das wird er gegen Essen eintauschen. Ein Pelzhändler, den er auf seinem beschwerlichen Weg trifft, bietet ihm einen jungen Indianer mit dem Namen »Alte Frau aus der Ferne« an. Auf die Frage, ob er vertrauenswürdig sei, antwortet der Pelzhändler: die Indianer »sind ebenso freigebig und loyal wie hinterhältig und verschlagen. Sie sind ebenso schwach wie stark, offen wie verschlossen. Sie sind gerissen und zugleich hoffnungslos naiv, sie sind rachsüchtig und gemein und so lieb und neugierig wie kleine Kinder«.
Der junge Indianer wird ihn begleiten. Carys Davis erzählt die Geschichte im Wechsel zwischen dem nach Westen ziehenden Bellmann und den Daheimgebliebenen. Während der Vater ums Überleben kämpft, wird auch das Leben der inzwischen elfjährigen hübschen Bess immer gefährlicher. Elmer Carter, ein Nachbar und ziemlicher Widerling, der für die Tante die »Männerarbeiten« erledigt, hat ein Auge auf Bess geworfen und wartet nur auf eine passende Gelegenheit.
Obwohl Bellmann, wie versprochen, fleißig Briefe schreibt, ankommen wird kein einziger. Einmal fallen sie von einem Boot ins Wasser, und die Tinte wird abgewaschen, ein andermal zieht ein Hund das Bündel aus der Tasche eines schlafenden Soldaten und zerkaut es.
Bellmanns Kampf gegen die harten und schneereichen Winter, in denen er wenig zu Essen findet, machen ihm klar, »dass er mit dieser Reise sein Leben zerstört haben könnte und dass er zu Hause hätte bleiben sollen bei Kleinem und Vertrautem, anstatt sich ins Weite, Unbekannte zu wagen«. Als Bellmann schwer krank wird, kann ihn auch »Alte Frau aus der Ferne« nicht retten. Er stirbt. Der junge Indianer begräbt ihn und bringt, wie er versprochen hat, die letzten Briefe nach Pennsylvania. Er erreicht Bess, was allerdings nicht nur konstruiert klingt, keinen Augenblick zu spät.
Bess allerdings beschließt, »diesen Teil der Geschichte für sich zu behalten«.
Eine eher traurige, aber auch ergreifende Geschichte. Mit sparsamen Worten, klar, schnörkellos erzählt. Es tut weh zu sehen, wie ein Mensch, aus freien Stücken, mit falschen Entscheidungen, sein Leben zerstört. Auch Cyrus Bellmann selber wird klar, das er wohl »von den Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten«, sich für die falsche entschieden hatte. Der englische »Guardian« beurteilt diese Geschichte so kurz wie bündig als »umwerfend«. So kann man es sagen.

Sigrid Lüdke-Haertel

 

Carys Davies: West. Roman.
Aus dem Englischen von Eva Bonné.
Luchterhand Verlag, München 2019,
205 Seiten, 20 €

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