Das andere Amerika: »Nomadland« von Chloé Zhao

Bei dem Wort Nomaden kommen einem zuerst Menschen in den Sinn, die auf Kamelen reiten und in Zelten hausen. Doch heutzutage bezeichnet man so ganz allgemein auch Menschen ohne festen Wohnsitz. In den USA knüpft deren Lebensstil an die Tradition der amerikanischen Pioniere Pioniere an, und das mit Oscar, Golden Globe, zahllosen Preisen und lobenden Rezensionen versehene semidokumentarische Drama »Nomadland« handelt davon.

Frances McDormand verkörpert Fern, eine der modernen Nomaden, die man auf Parkplätzen von Walmart-Läden und Amazon-Lagern finden kann, wo sie als Saisonkräfte arbeiten. Es ist nicht ohne Ironie, dass diese Fox-Searchlight-Disney-Produktion in einem riesigen Amazon-Lager, also bei einem Medienkonkurrenten, beginnt.
Dort arbeitet Fern tagsüber engagiert, und abends trottet sie zu ihrem Kleintransporter, den sie zu einem kargen Wohnwagen umgebaut hat. Fern kommt aus einem kleinen Kaff in Nevada. Sie hat mit dem Tod ihres Mannes, mit dem sie laut eigener Aussage eine glückliche Ehe führte, und dem Niedergang des ansässigen Gipswerkes dort ihre Existenzgrundlage verloren.
Ihre neue Familie ist von beachtlicher Größe. Sie besteht aus ihren Arbeitskollegen, die genau wie sie durch die USA ziehen und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. »Houseless« nennt Fern ihren Zustand, nicht »homeless«, denn sie ist an den Lagerfeuern ihrer Kolleginnen und Kollegen daheim.
Diesen Menschen gilt das Interesse des Films, der auf dem Sachbuch »Nomadland: Surviving America In The Twenty-First Century« von Jessica Buder beruht. Die Journalistin hat sich ein Jahr lang mit den sogenannten Arbeitsnomaden beschäftigt, die in der Finanzkrise 2007/08 ihre Jobs und Häuser verloren hatten. Doch in dem Film der chinesischen Amerikanerin Chloé Zhao geht es vor allem um die Widerstandskraft und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen gerade unter widrigen wirtschaftlichen Bedingungen.
Das wird insbesondere dem deutschen Kinopublikum erst dann so richtig klar, als Fern es ablehnt, im Gästezimmer ihrer Schwester zu übernachten oder bei dem sympathischen Dave (David Strathairn) zu bleiben. Dabei hätten die beiden doch so gut zusammengepasst!
Die Figur der Fern hat die Drehbuchautorin und Regisseurin Zhao dem Buch hinzugefügt. Während der Großteil der Darsteller aus dem Milieu stammt – auch einige Personen aus dem Buch sind zu sehen, die von ihrem harten Schicksal berichten –, gibt die Figur der Fern dem eher episodisch-dokumentarischen Stil des Films die dramaturgische Klammer.
Die in ihren Rollen zumeist taffe Frauen darstellende France McDormand erweist sich in doppelter Hinsicht als Glücksgriff. Ihre Fern verschafft dem Film einerseits die nötige Aufmerksamkeit bei der Vermarktung und wirkt andererseits als glaubwürdige, weil absolut glamourfreie Identifikationsfigur. Sie verbindet uns Zuschauer mit dem fremdartigen Geschehen auf der Leinwand.
Die oscarprämierte Regisseurin versteht es zudem, die Faszination des Nomadenlebens filmisch zu vermitteln. Joshua Janes Richards unterstützt sie dabei als Kameramann und Produktionsdesigner, wenn er die Weite des Landes beschwört, selbst bei den Originalschauplätzen, die einen heruntergekommenen Eindruck machen.
»Nomadland« ist ein sehr amerikanischer Film – wie die klassischen Western vor siebzig und mehr Jahren. Das Erzähltempo ist allerdings langsamer geworden. Die Äußerungen der Menschen sind in eine erfundene Handlung eingebunden. Dieses Konzept ist schon zuvor in der Filmgeschichte versucht worden und vor allem in den europäischen Neuen Wellen mehr oder weniger gelungen. Chloé Zhao hat es nahezu perfekt weiterentwickelt.

Claus Wecker (Foto: © 2021 Disney)
NOMADLAND
von Chloé Zhao, USA/D 2020, 108 Min.
mit Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Gay DeForest
nach dem Buch von Jessica Bruder
Drama
Start: 01.07.2021

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