Merkwürdigkeiten des Alltags
Das neue Werk von Ingrid Mylo – die viele STRANDGUT-Leser noch von ihren »Kaffeeblüten« kennen – kommt aus einem der ältesten Druckhäuser Europas, 1488 in Basel von Johannes Petri gegründet, der das Druckerhandwerk in Mainz zur Zeit Gutenbergs erlernt hatte. Das wirklich schön gemachte Buch bringt Ingrid Mylo mit dem Basler Zeichner Peter Olpe zusammen. Für die Fusion verantwortlich ist der vor allem in Frankreich arbeitende Schweizer Fotograf, Bildhauer und Maler Peter Knapp, ein Revolutionär des Layouts von Modezeitschriften und seit 1984 Leiter der Pariser »Ecole Supérieure d‘Art Graphique ESAG«, auch als »Académie Julian« bekannt. Er vermutete, die beiden Miniaturisten würden sich gut ergänzen. Tun sie auch.
Ingrid Mylo kann mit nur wenigen Worten Menschen zeichnen. »Ihre literarische Vignetten sind trotz ihrer Kürze voller Einzelheiten, Farben und Hintergründe, sie bleiben in der Erinnerung wie Polaroidfotos«, sagt Peter Knapp. Zuletzt erschien von ihr – zusammen mit Felix Hofmann »Das 100-Tagebuch – Documenta (13)«, ein Kunstbuch der wirklich anderen Art.
Peter Olpe, einst Vizedirektor der Schule für Gestaltung Basel, ist Grafiker, Zeichner, Konstrukteur von Lochkameras für Rollfilm 120. Ein wenig wie von einer Lochkamera gebannt wirken denn auch seine in diesem Buch versammelten Arbeiten. Es sind expressive, fast rigoros vereinfachte Pinselskizzen, gezeichnete Schnappschüsse menschlicher Haltung und Ausdrucks. Alle sind sie auf einer gelben Fläche gezeichnet, die zuerst entsteht, bevor die Figur Gestalt annimmt. Olpe sagt, dass er am Anfang oft nicht wisse, »ob sie als Frau oder Mann, halb oder ganz angezogen, dunkel oder hell, sprechend, staunend, nachdenklich oder stumm enden wird«.
Ingrid Mylo also schrieb, Peter Olpe zeichnete. Erst als Text und Zeichnungen fertig waren, wurde ausgewählt, einander gegenüber gestellt, in Bezug gesetzt, hin und her geschoben, geordnet, verworfen, zugeordnet, wurden die jetzigen Paare gebildet. Doppelseiten mit je einer Zeichnung auf gelbem Grund, auf der anderen Buchseite eine schwarz gepinselte Fläche, auf der in Weiß und in sachlicher, serifenloser Schrift der Text steht. Eigentlich bin ich kein Freund von Negativschrift, hier funktioniert es wunderbar und wirkt es sehr ästhetisch, weil Schriftart, Zeilenabstand und Satzspiegel perfekt gewählt sind. Es gibt keine Bildunter- und keine Textüberschriften. Nur die Reibung, die aus Bild und Text entsteht. Der Vierfarbendruck nuanciert die Qualität der Pinselzeichnungen und den unterschiedlich kräftigen Hintergrund, macht das edel gestaltete, buchbinderisch solide Buch lebendig. Man wird und kann es man es noch oft zur Hand nehmen und beliebig aufschlagen. Verantwortlich für Layout und Satz ist Peter Olpe. Als Tüpfelchen auf dem I hätte ich mir nur noch ein Lesebändchen gewünscht, wobei man gewiss zu mehr als nur zu einer Stelle in diesem Buch zurückkehren will. Es gibt einfach zu viele gute »Stellen«.
Die Texte sind ebenso wenig Bildlegenden wie die Zeichnungen Illustrationen für die Worte sind. Sie passen zu einander, sind wie füreinander geschaffen, aber nicht im herkömmlich harmonischen Sinne. Da ist ein verhalten witziger, störrischer, fein dissonanter Spalt zwischen ihnen. Ganz im Sinne von Leonhard Cohen schöner Stelle aus seinem »Anthem«, wo es heißt: »There is a crack, a crack in everything. That‘s how the light gets in.«
Da gibt es den Geruch von Gurkensalat, den Augenblick vor dem Einschlafen als Kind, den Moment, wenn der alte Kühlschrankmotor den Geist aufgibt oder wenn der Blick auf schmutzige Fingernägel beim Gegenüber fällt, den Gleichmut gelber Pflanzen, die nächtlichen Häuser trunken voller Licht, die lüsterne Rücksichtslosigkeit sehr junger Liebhaber, den Geruch von warmem Toastbrot, geblümte Morgenmäntel, Tee an Winternachmittagen, einen Mann am Rande eines Feldwegs, der so reglos und still steht, dass man nicht weiß, ob er völlig versunken ist in den Anblick der Landschaft oder pinkelt. Da gibt es das Seufzen des Akkordeons beim finnischen Walzer, als ächze jedes Stück Holz im Land, da sind die flachen Striche der Flugzeuge durch den Horizont wie »die Linie, die den Tod des Patienten signalisiert«. Da ist der Augenblick, in dem man das Kino verlässt, da ist die immer gleiche Stelle zum Straßenüberqueren, da sagt Jack Nicholson zu Shirley MacLaine: »Wind in den Haaren und Stahl in der Hose.« Da ist der Moment, dass man so genau in eine Landschaft passt wie das letzte Teil eines Puzzles, da ist ein Satz aus Kafkas Tagebuch vom Sommer 1912, da legt sich der Geruch nach gekochtem Blumenkohl wie ein feuchter Putzlumpen um den Kopf, da stehen Sätze wie: »Nur Traurige und Leute mit Hund gehen bei Regen im Park spazieren« oder: »Am Spiegel endet die Zukunft.«
Und oft schaut man die Bilder und die Texte an, mag nicht glauben, was sich hier tut. Paare aus Text und Bild führen weit zurück in die Geschichte des Buchdrucks, eines dieser Beispiele ist das »Narrenschiff« von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494, ein Panoptikum von Schwächen, Widersprüchen und Merkwürdigkeiten des Alltags, eine Typologie des Komischen und der Komischen des späten Mittelalters. Das »Narrenschiff« erfuhr viele Auflagen, eine kam in eben dem Verlag heraus, in dem nun »Kleine böse Absichten« erschienen ist.