»Der junge Karl Marx« von Raoul Peck

Ein Multipersonenstück

Der junge Marx? Da war doch was! Richtig, Georg Lukács hat einen berühmten Text über die philosophische Entwicklung des jungen Marx geschrieben. Im Jahr 1842, so schreibt er darin, wäre Karl Marx noch ein zwar radikaler, doch bürgerlich-demokratischer Publizist gewesen, ein »philosophisch-idealistischer Jakobiner«. Der Bruch mit seiner Klasse, der deutschen Bourgeoise, musste zwangsläufig kommen, so Lucács, und zwar sowohl aufgrund seiner theoretischen Überlegungen als auch durch die direkte Anschauung der Lage der Arbeiterklasse.

Für diese Anschauung war vor allem Friedrich Engels zuständig, mit dem der junge Karl Marx sich, nach einer kurzen Phase der Animosität, befreundete und lebenslang verbunden blieb. Der junge Marx, das ist seitdem das Modell dafür, wie aus einem bürgerlichen Kritiker »aus gutem Haus« ein Umstürzler wird, der für seinen radikalen Bruch mit »seiner« Klasse auch ein Leben in Gefahr und Not riskiert. Der ältere Marx, das ist etwas anderes, das ist der, der unter oft verzweifelten, immer beschränkten Umständen ein wissenschaftliches Grundlagenwerk schafft: »Das Kapital«. Ein Buch, aus dem bekanntlich nicht nur »Marxisten«, sondern auch ihre erklärten Gegner bis heute schöpfen. Das ist natürlich, sieht man einmal von erotischen Verwicklungen und endlosen Geldsorgen in der Familie Marx ab, eher weniger filmgerecht.
Der Regisseur Raoul Peck, ein Weltfilmemacher, wenn es so etwas gibt, den der Weg seiner Kunst von seiner Heimat Haiti nach Kuba, Afrika und Europa führte, möchte wohl diesen Prozess beschreiben, mit deutlicher Sympathie für seine historischen Protagonisten und zugleich mit einem Blick für das Allgemeine und Modellhafte: Wie ein Mensch sich gegen alles entscheidet, wofür er von Herkommen und Kultur geprägt scheint, weil er in der Lage ist, aus moralischer Empörung ein politisches Bewusstsein zu gewinnen. Genauer gesagt geht es um vier Menschen, zwei Männer und zwei Frauen, die diesen Schritt schaffen, auf vier verschiedene Arten. Es geht unter anderem vielleicht auch darum, dass ein »Bruch mit seiner Klasse« keine so einfache Sache ist. Deswegen spielt sehr zu recht das »Privatleben« eine wichtige Rolle, die Beziehung des Karl Marx zu seiner Frau Jenny, die Beziehung zu Engels, und wiederum dessen Beziehung zu seiner Frau, der englischen Arbeiter-Aktivistin Mary Burns. »Der junge Marx« ist eigentlich ein Multipersonenstück und behandelt auch die Gegenspieler, etwa die schwärmerischen Rhetoriker vom Bund der Gerechten oder Friedrich Engels’ Vater, der als Fabrikant an der elenden Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter Schuld trägt, ohne Denunziation.
In »Der junge Marx« gelingt es Raoul Peck, die meisten Fehler zu vermeiden, die politische Biopics begehen. Er ist nicht sentimental und nicht monumentalistisch, er gibt nicht vor, in die »Abgründe« seiner Figuren zu sehen, sondern bleibt bis auf wenige Momente der Intimität, in respektvoller Distanz, unterstützt von seinen Schauspielern, die ihre Vorbilder nie zu Ende erklären wollen. Und Peck und seine Mitstreiter widerstehen vor allem der Gefahr, eine lineare Beziehung zwischen Psyche und Politik herzustellen. Marx und Engels handeln hier aus Erkenntnis und Willen heraus, und ihre Frauen, so unterschiedlich wie die Männer, sind alles andere als private Staffage, es sind politisch handelnde Menschen aus eigenem Recht.
Die Stärken dieses Films sind allerdings auch zugleich seine Schwächen. »Der junge Marx« muss sehr viel Pflicht abliefern (Zeitkolorit, historische Genauigkeit, Vermittlung von Hintergrundwissen, Klärung der Fronten, die sinnliche Veranschaulichung der Gefahr …), dass nur wenig Platz für die Kür blieb (das durchaus auch lausbübische Verhältnis von Marx und Engels, das Fortwirken von Klassenkultur in der Beziehung von Jenny und Mary, ein sehr spezifischer Humor …). Der Film »Der junge Marx« macht erst am Ende das, was sein Held schon in der Mitte seiner Geschichte macht, nämlich mit den gewohnten Regeln brechen, sich gegen alle Floskeln und Konventionen zu behaupten. Aber dann, nach der Schilderung der Mühen und der Lust, die das gemeinsame Verfassen des Kommunistischen Manifests gekostet hat, macht er noch einmal klar, dass diese Geschichte auch filmisch nicht museal konservierte Vergangenheit ist. Sie hat sehr viel mit unserer Gegenwart zu tun.

Georg Seeßlen
DER JUNGE KARL MARX
von Raoul Peck, D/F/B 2016, 118 Min.
mit August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Olivier Gourmet, Alexander Scheer, Michael Brandner
Biopic
Start: 02.03.2017

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