Ein argentinischer Roman aus der Pampa mit Frankfurt-Bezug? Oder umgekehrt, ein Roman aus Frankfurt über die argentinische Pampa? »Hans der Schreiber« von Diana Garcia Simon ist beides – und ihr Roman ein kleines Wunder. 92 Seiten schlank, dabei voluminös wie einer jener Ozeandampfer, die einst Hunderttausende von Emigranten nach Südamerika brachten. 92 Seiten und ein Reichtum, der so manch weit dickeren Roman übersteigt. Ein Buch mit gewaltigem Hall, dabei schlicht und klar, ohne jede Pomade, fast archaisch. 92 Seiten und die Sätze so stark, dass die meisten von ihnen als Einzeiler alleine stehen. In einer Sprache, die sich ihrer Worte bewusst ist. Ganz viel Poesie. Ein Meisterwerk. Ein geschliffener Diamant.
Und noch ein Kompliment: Mit dem deutschen Literaturbetrieb hat dieses Buch nichts zu tun. Es macht stattdessen unbändige Lust, sofort verstärkt argentinische Literatur zu lesen. Der schmale Band wäre gleichzeitig auch wunderbare Grundlage für ein Poetik-Seminar wie für einen literaturhistorischen Exkurs. Im Jahr 2025 knüpft hier eine transnationale Schriftstellerin an die großen Erzähltraditionen Südamerikas an, präsentiert sie uns entschlackt und modern. Und berührend.
Diana Garcia Simon ist in Argentinien geboren, hat in Buenos Aires, Granada, Salamanca und Barcelona Romanistik studiert und in Frankfurt am Main promoviert. Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin hat sie in mehreren Publikationen mitgewirkt, auch als Übersetzerin und Buchillustratorin. Sie hat literaturwissenschaftliche Bücher, Romane und Theaterstücke veröffentlicht, darunter »Ich hab’ kein Heimatland. Jüdische Spuren im argentinischen Tango« (2021) und »Gestrandete Dichtung. Politik und Humor im argentinischen Tango« (2022).
Die in ihrem Roman erzählte Geschichte ist fiktiv, auch die weibliche Hauptfigur. Hans aber ist real. Es ist ein deutscher Soldat des Zweiten Weltkriegs, der Brieffreund und Verlobter eines deutschstämmigen Mädchens in der argentinischen Provinz war. Seine Familie hat der Autorin seine Feldpost, seine Erinnerungen und seine Geschichte anvertraut. In Frankfurt am Main, seiner Stadt, gibt es eine Kirche mit einem großen Innenhof, verrät uns die Autorin. Dort sind auf den Säulen, in roten Buchstaben, die Namen aller jungen Männer aus Frankfurt eingraviert, die nie aus Russland zurückkehrten. Diana Garcia Simon hat daraus beeindruckende Literatur gemacht.
»Novelas de la Vida. I. Titulo« steht im Impressum: Romane des Lebens, 1. Band. Der Auftakt einer Reihe also, funkelnder könnte er nicht sein. Mit wenigen Strichen und einem Romananfang, der zum Klassiker taugt, entführt uns die Autorin in eine Welt, die wir nicht kennen. Ein kleines Dorf in einer vergessenen Ecke der argentinischen Pampa. Nur das Radio ist dort die Verbindung zur Welt. Und ein fahrender Händler. Aby heißt er, und sein Besuch steht bevor. Erst aber der erste Satz: »Die Donnerstage begannen im Haus der S. stets früher als an den anderen Tagen der Woche. Neben den alltäglichen, mechanischen Gesten – widerwilligem Erwachen, das Gesicht waschen, dem Vorbereiten des Frühstücks, dem Wecken der anderen Familienmitglieder, dem Seufzen und Klagen – oblag es Tami, sich auf den Besuch von Aby, dem fahrenden Händler, vorzubereiten.«
Eigentlich kommt er immer pünktlich, aber was heißt das schon an einem Ort, an dem zeitliche Präzision wenig Bedeutung hat, mitten in diesem Nichts, wo das Haus steht, »umgeben von Spinnweben, dem Geruch von verbranntem Holz und gackernden Hühnern«. Ein Bronzekiebitz vielleicht, wirft die Erzählung ein. Wir sind in der 13. Zeile. Erfahren, dass wohl besser von zwei solcher Vögel die Rede sein sollte, denn sie bewegen sich stets im Paar und bleiben einander ein Leben lang treu. Sie sind so lautstark, dass man sich ein großes Tier vorstellt, und nicht die kleine Federkreatur – »nur ein paar Gramm an Materie, nicht mehr«.
Und dann, immer noch auf der ersten Buchseite, ertönt auch schon das Radio, ist immer angestellt.
»Wo sonst hätte man in dieser vergessenen Ecke der Pampa von den aktuellen Schlagern erfahren sollen?« Bereits die Erkennungsmelodie versetzt in beste Laune. »Das Leben der Stars, mit seinen Tonnen an Glamour, der makellosen Diktion jener, die stets die richtigen Worte finden, die passende Antwort parat haben, mit einem maßvollen Lächeln.
Eleganz.
Genau das.
Ein unverzichtbarer Genuss.
Telefunken. Unsere deutschen Freunde wissen es wirklich meisterhaft zu machen.
Es gibt auf der Welt keine besseren Radios, liebe Zuhörer.
Und schon steigt die Sonne empor. Der Mantel der Armen.
Aus unserer Sendezentrale wünschen wir Ihnen einen schönen Tag.«
Die erste Buchseite, und schon so viele Akkorde angeschlagen. Wie ein Musikstück, das sich ohne Zögern seinen Raum eröffnet und die Stimmung setzt. Den »Kammerton A«, wie Alexander Kluge sagen würde. Auch ihm gibt es eine erzählerische Nähe: »Chronik der Gefühle. Lebensläufe. Tür an Tür mit einem anderen Leben.« Weil wir hier nicht im Literaturseminar sind, hier kein weiterer Verweis auf andere Autoren oder auf Erzähltraditionen. Bei Diana Garcia Simon ist es der fahrende Händler Aby, der die Orgel auspackt. Er weiß die Temperatur des Augenblicks zu messen, er beherrscht die Kunst der Modulation, ist ein meisterhafter Erzähler, und um das sein zu können, ein intelligenter Zuhörer, ein genauer Beobachter und Chronist, den stets wohl dosierten Humor nicht zu vergessen.
Und dann schon gleich ein Kabinettstück, auf den Seiten vier bis sechs. Der Abriss des Provinzpersonals, der Nachbarn, mal böse, mal nackt, alles in nur je einem Satz. Glänzende Miniaturen.
»Ein Nachbar, der heimlich Gras aß.
Ein anderer, der rot anlief, sobald er ein Schaf erblickte.«
Dann der, der weinte, wenn er eine Zwiebel nur von der Ferne sah, natürlich eine Geschichte dahinter. Und das mit der Kuh, die eine Ampel fraß.
Und immer wieder ruft das Radio »Telefunken!!!« Und die Stimme erzählt vom Untergang des Schlachtschiffs Graf Spee und davon, wie sein Kommandant sich in einem Hotelzimmer in Buenos Aires das Leben genommen hat. Weil er mit seinem Schiff kapitulierte. 1039 deutsche Soldaten aber leben jetzt weiter, bleiben in Argentinien, lernen junge Frauen kennen, gründen Familien, beginnen ein neues Leben.
Tami in ihrem Dorf in der Pampa hört davon. Im Radio. Die Welt ist sehr weit weg. »Und nach der Straße, was dann?«, fragt sie sich. Oder: »Und was, wenn man die Straße erreicht hatte?« In ihrer Welt gibt es nur ein Leben, von den Elementen geprägt: Feuer. Regen. Erde. Wind.
Sogar Schlangen können dort Sprache sein. Geheimsprache. »Denn ohne Schrift gibt es kein Leben.«
Von der anderen Seite des Lebens schickt Hans ihr Briefe. Der deutsche Verlobte. Hans der Schreiber. Und auf 92 Romanseiten entfaltet sich: die Welt.
