Sie waren Freundinnen. Wie weit ihre Beziehung ging, ist nicht geklärt. In »Spatz und Engel«, einem szenischen Chansonabend, den in diesem Sommer die Festspiele in der Bad Vilbeler Wasserburg aufbereiten, sind Marlene Dietrich und Édith Piaf miteinander ziemlich intim. Gleich am ersten Abend ihres Kennenlernens im New York des Jahres 1948 landen die beiden Diven in dieser Geschichte zusammen im Bett. Von da an nimmt die ältere und vernünftigere Deutsche die junge, sensible Französin unter ihre Fittiche. Vor der Drogen- und Alkoholsucht und den harten Schicksalsschlägen kann sie sie allerdings nicht bewahren, auch wenn sie es immer wieder versucht.
Was Wahrheit ist und was Fiktion, spielt bei den Fragmenten des gemeinsamen Lebenswegs der beiden Ausnahmekünstlerinnen, die Daniel Große Boymann und Thomas Kahry nach einer Idee von David Winterberg aufgeschrieben haben, kaum eine Rolle. Die Liedvorträge, die die Erzählung miteinander verbinden, stehen unter der Regie von Ulrich Cyran im Vordergrund. Sie sorgen dank der starken Stimmen von Antje Rietz, die mal im goldenen Glitzerkleid, mal im schräg abgeschnittenen Männeranzug, die große, kühle Blonde mit dem trockenen Humor mimt, und Tina Podstawa, die im deutlich zurückgenommeneren Schwarz die zierliche, psychisch labile Pariserin darstellt, für eindringliche Momente. Horst Maria Merz am Klavier und Vassily Dück mit seinem Akkordeon zaubern, unterstützt vom Lichtdesign, die jeweils notwendige Atmosphäre.
Dorothea Mines hat für die Bühne eine Art Laufsteg kreiert, auf dem sich die Stars des Abends präsentieren, auf dem aber auch noch zwei Clowns herumturnen. Alexandra Hacker und Henning Kallweit übernehmen Nebenrollen wie dauerknipsende Fotografen oder Gäste der stetig brodelnden Gerüchteküche; die meiste Zeit jedoch kommentieren sie mit ausladenden Gesten als stumme Pantomimen das Geschehen. Das lenkt eher störend von dem ab, was die Qualität des zweistündigen Stücks ausmacht: die beiden so unterschiedlichen Charakterfrauen mit ihren populären Werken. »Just a gigolo«, »Non, je ne regrette rien«, »Sag mir, wo die Blumen sind« – die bekannten Klassiker verdrängen nach der Pause immer mehr das, was vorher noch ein Handlungsfaden war. Nach dem bedrohlichen Grollen, das in der aufkommenden Düsternis den tödlichen Absturz des Flugzeugs mit Piafs Freund und großer Liebe Marcel Cerdan ankündigt, sorgen die Hits für sehr emotionale Höhepunkte. Die beiden Schauspielerinnen versuchen dabei nicht, ihre Vorbilder zu imitieren. Aber sie passen sich ihnen an, ohne eine gewisse Individualität zu verlieren. Als schließlich die eine von der anderen Abschied nimmt, die bereits 1963 verstorbene Piaf ihrer 91 Jahre alt gewordenen Freundin nur noch als Erscheinung gegenübertritt und ihr versichert, das geschenkte Goldkreuz mit ins Grab genommen zu haben, vertieft sich die Melancholie des Abends und mündet in einem zweisprachigen Duett von »La vie en rose«. Dass das Rufen nach Zugaben zur Folge hat, ist keine große Überraschung.