Jede Liebesgeschichte hat eine Vorgeschichte. Manchmal ist sie ganz kurz, ein andermal bahnt sie sich langsam an, bevor die Protagonisten bemerken, dass sie sich schon längst mitten im Hauptteil befinden. Bei dem neuen Werk des italienischen Regisseurs Pietro Marcello, der durch seine Jack-London-Verfilmung »Martin Eden« eine Art Geheimtipp geworden ist, muss das Publikum dagegen lange warten, bis für die träumerische Juliette (Juliette Jouan) die Prophezeiung einer alten Frau (darf man heute noch »Hexe« sagen?) in Erfüllung geht.
»Die Purpursegel«, Originaltitel: »L’envol«, was man am besten mit »Emporfliegen« übersetzt, erzählt frei nach einem Roman des Russen Alexander Grin eine in die Normandie verlegte Geschichte aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Raphaël (Raphaël Thiéry) kommt als Veteran in sein Heimatdorf zurück. Seine Frau ist nach der Geburt der Tochter verstorben.
Seine kleine Tochter findet er bei der sympathischen Adeline (Noémie Lvovsky) vor, die ihn auch bereitwillig bei sich aufnimmt. Im Dorf wird der schweigsame Raphaël dagegen eher abgelehnt. Ein Grund dafür dürfte sein, dass seine Frau nach einer Vergewaltigung an Unterkühlung gestorben ist und Raphaël den Frieden, den die Gemeinde mit diesem Vorfall gemacht hat, empfindlich stören könnte.
Die unerschütterliche Adeline verschafft ihm trotzdem durch beharrliches Zureden einen Aushilfsjob. Sie ist von seinen Händen überzeugt, die, obwohl sie klobig aussehen, die schönsten Holzgegenstände drechseln können. So fertigt er später Spielzeug, das die mittlerweile herangewachsene Juliette (Juliette Jouan) einem Händler in der nahegelegenen Stadt zum Verkauf anbietet.
Mit großer Feinfühligkeit hat er auch seine Tochter von den Babyjahren bis zur jungen Frau aufgezogen. Er hat gegen den Willen Adelines ein heruntergekommenes Klavier instand gesetzt und dafür gesorgt, dass Juliette darauf spielen kann. Und er hat sie nicht mit den harten Erfahrungen belastet, die er in seinem Leben sammeln musste, sondern sie in ihrer eigenen Welt leben lassen. Die besteht aus romantischer Musik, Lyrik und dem Traum von den Purpursegeln, die am Himmel erscheinen und Juliette in die Welt hinaustragen werden.
Diese Gegensätze drückt Regisseur Marcello auch durch einen Stilwechsel aus. So ist der Beginn wie ein karger Dokumentarfilm inszeniert, der zudem auch noch durch einige Archivaufnahmen vom damaligen Stadtleben angereichert ist. Kameramann Marco Graziaplena hat er auf 16mm-Material drehen lassen, was den Bildern zu der Körnigkeit alter Filme verholfen hat. Wie ein großer Rotwein nach dem Öffnen der Flasche wirkt der Film verschlossen und belohnt dann auch alle, die sich auf ihn einlassen.
»Die Purpursegel« bekommen mehr und mehr einen märchenhaften Ton. Wenn schließlich der Pilot Jean (Louis Garrel) als künftiger Liebhaber am Himmel auftaucht, sogar den eines Musicals. Man erinnert sich an die Filme eines Jacques Demy, der Realismus und Phantasie auf ähnlich ungewöhnliche Weise verband. Auch Komponist Gabriel Yared hat sich deutlich an Michel Legrands Filmmusik angelehnt.
Alle Reminiszenzen an die französische Filmgeschichte liefen allerdings ins Leere, wenn nicht von Raphaël Thiéry und Juliette Jouan als Vater und Tochter eine eigentümliche Faszination ausgehen würde. Sie sind die große Entdeckung in diesem Film.