Die taiwanesische Autorin Katniss Hsiao und »Das Parfüm des Todes«

Dieser Roman lässt nicht unberührt. Das Schwarz des Covers ist nicht nur Design. Sein Originaltitel lautet Bevor wir »Monster waren/Before We Were Monsters«. Er ist eine Reise. Vom Dunkel ins Licht. Aber nicht vom alltäglichen Dunkel, und allerdings nicht ins normale Licht. Um in diesem – im tiefen Winter in Taiwan spielenden – Roman die Sonne zu sehen muss man bis zum Ende hoffen. Muss und wird man mit einem Schicksal und einer Lösung einverstanden sein, wie man sie sich nicht vorstellen konnte. Wird man im Dunkel ein Licht sehen, das nicht unseres ist.

Dieser Roman ist eine Sinneserfahrung. Dieser Roman erweitert den Blick. Vielleicht kann nur ein tief empfundener, kein Risiko scheuender Debütroman derart Existentielles bündeln, unserer menschlichen Natur – die wir doch schon aus unzähligen Filmen und Büchern zu kennen glauben – etwas Neues, Tiefes, Wahres abgewinnen. Katniss Hsiao jedenfalls hat für ihren Erstlingsroman ALLES riskiert. Hat sich dafür in einen tiefen Abgrund begeben, keinen Schatten gescheut. Keine Angst. Keinen Exzess.

Das macht »Das Parfüm des Todes« kraftvoll und schön. Macht es zu einer Leseerfahrung. Der Roman ist sanft und brutal, ist – bergbach-klar übersetzt von Karin Betz – ein Triumph, ist psychologischer Thriller und Serienkiller-Roman und große existentialistische Literatur. Und er beweist, welch einen Spannbogen zu füllen und welche Grenzen zu überschreiten intelligente Kriminalliteratur in der Lage ist. Es wundert mich nicht, dass Thomas Wörtche, der als Herausgeber seit über 30 Jahren nach Gold schürft, von dieser Autorin so angetan ist. Auf der Buchmesse Frankfurt, wo sie zu Gast war, erstaunte mich dann noch zusätzlich ihr Alter. Sie ist wirklich jung.

»Eine zutiefst verletzte Protagonistin, die der Welt mit einer zerstörerischen Entschlossenheit gegenübertritt«, so beschreibt Katniss Hsiao selbst ihre Romanfigur. Die geht buchstäblich durchs Feuer. Sie sucht einen Mörder und gleichzeitig sucht sie Erlösung. Sucht Befreiung aus einem Trauma.

Yang Ning ist Tatortreinigerin in Taipeh. Früher hatte sie einen Geruchssinn wie ein Fluch. Nach dem ihr unverständlich gebliebenen Selbstmord ihres jüngeren Bruders hat sie ihn verloren. »In ihrer Nase herrscht Leere.« Sie geht von Arzt zu Arzt. Ohne Ergebnis. Dann entdeckt sie, dass sie nur an Tatorten wieder etwas riechen kann, »dort, wo ein Leben blutig zu Ende gegangen war … Leichengeruch ist ihre Medizin, ihr einziges Mittel gegen den Geruchsverlust, den kein Arzt zu heilen verstand«. Ihre Nase braucht den Geruch des Todes. Obwohl sie sich oft übergeben muss, gibt sie sich diesen Gerüchen hin. Es wird zu einer Sucht. Ihre Kollegen finden sie manchmal benommen vor, »fiebrig heiß, einem jeden anderen unbegreiflichen, überwältigenden Orgasmus nahe«. Stöhnend.

In der ersten Szene des Romans wachen wir mit dieser Protagonistin auf. Etwas kalt, feucht Klebriges lastet auf ihr, eine Präsenz. Eine Angst. Ein Alb. Sie fühlt sich »wie eine Leiche mit Bewusstsein«. Sie ist tonlos, bringt kaum einen Laut heraus. »Nicht mehr als das Hüsteln eines alten Mannes auf dem Totenbett.« Es ist kalt, November im Norden Taiwans. Als sie sich vorsichtig die Schläfen massiert, regnen abgestorbene Hautpartikel herunter. »Erst achtundzwanzig und schon vorzeitige Hautalterung«, denkt sie.
Sie hat hohe Wangenknochen, die Gesichtszüge streng und hager, kein Gramm Fett mehr auf den Rippen. »In den vergangenen Jahren war sie zu einem Schakal abgemagert«. Sie ist klein, eins sechsundfünfzig. Verströmt trotzdem von Kopf bis Fuß die Aggressivität eines Raubtiers.
Mit einer gründlichen heißen Dusche wäscht sie sich den widerlichen Schleier herunter, den sie auf sich spürt. »Ah, wie ein Aufstieg aus der Hölle war das.« Im Fernsehen läuft ein Dokumentarfilm, in dem Orcas ganz nah am Ufer lauern, auf die richtige Welle warten und sich Seelöwen vom Strand schnappen. Dann klingelt das Telefon. Es gibt Arbeit. Eine Zwanzigquadratmeter-Wohnung. Die Leiche sei schon abtransportiert.
Yang Ning schnappt sich den Schlüsselbund mit dem Wal-Anhänger und macht sich auf. Mit ihrem Hundertfünfzwanziger-Motorrad. Kältetest auf der Brücke. Der fiese Wind findet in den Helm. Dann ist sie da, in ihrer Firma im vierten Stock. »Keine Sorge. Überlassen sie uns Ihre Trauer und Ihren Schmerz und Wir kümmern uns drum! NEXT STOP Company«, verkündet das Plakat. Die Firma ist auf Tatortreinigung spezialisiert: Wohnungen ausräumen, die Leiche abtransportieren, den Ort so wiederherstellen, wie er den Lebenden übergeben werden kann. Über ihnen residiert das Beerdigungsinstitut Barmherziges Leben, es gehört auch dem Chef.
Den werden wir auch bald kennenlernen. Dazu Kollegen, den Buchhalter der Firma, eine Parfümdesignerin namens Madame Fang – und durch Vermittlung ihres Exfreundes Xu Haoyang, eines Anwalts, einen Serienkiller: einen Psychopathen, der sich selbst gestellt und zu sechs Mordtaten bekannt hatte, dann verurteilt, begnadigt und schließlich freigelassen worden war. Cheng Chunjin, den »Parfümkiller«. Ein Kryptograf der Gerüche.

Er wird ihr Mentor.

»Wer den Künstler verstehen will, muss erst das Werk verstehen«, sagt ihr dieser Lehrmeister. »Jetzt stell dir vor, du bist die Beute, und wenn du das Fürchten gelernt hast, stell dir vor, du bist der Jäger, und lerne, die Furcht zu beherrschen.« Er ermuntert sie, die Freude an der Angst entdecken, das Licht im Dunkel des Bösen … »was für eine Frau, die vom Schnüffeln an einer Leiche einen Orgasmus bekam, gar nicht so neu war«, heißt es im Buch.

Wie die FBI-Agentin Clarence Sterling in »Das Schweigen der Lämmer« ihren Hannibal Lector braucht sie ihn als Führer, um das Innenleben eines psychopathischen Geistes zu verstehen. »Um das Monster zu jagen, muss sie selbst zu einem Monster werden«, sagt der Klappentext. Denn die Wohnung, zu deren Säuberung sie gerufen wurde, war eine Falle. Es war ein Tatort, an dem ein Mord geschehen ist. Der Mörder hat ihr die Drecksarbeit und die Vernichtung der Beweise überlassen und sie zugleich zur Haupt-Tatverdächtigen gemacht. Auf Seite 109 wird ihr klar: Der Mörder hat sein Verbrechen ungehemmt vor ihr entblößt, dreist und höhnisch. Und sie hat eigenhändig einen Beweis nach dem andern beseitigt. Um sich zu entlasten, muss sie den Täter finden, auf eigene Faust.

Es wird eine Reise in die eigenen Traumata. Und der Mörder, dessen Tagebuchauszüge wir zu lesen bekommen, weiß sehr viel über sie. Zu viel. Er will, dass sie ihn jagt. Will, dass sie ihm ins Dunkel folgt.

Sie folgt der schwer fassbaren Spur, die der Mörder hinterlassen hat – es ist der Duft eines bestimmten Parfüms. »Ob du es herausfindest? Die Spur, die ich gelegt habe? Dein Geruchssinn, mein Geruch …«, heißt es im Tagebuch.

Seit Patrick Suskinds »Parfüm« (von 1985) ist kein Roman mehr so sehr in die Welt der Gerüche getaucht. »Wer die Gerüche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen«, heißt es dort. In Katniss Hsiaos Roman öffnet sich eine ganze Bibliothek der Gerüche, verbotene Bücher sind auch dabei. Und ungemütliche. Hinter jedem Geruch, lernen wir, gibt es eine Geschichte.
Gefühle wecken Emotionen, beeinflussen die Wahrnehmung und sogar das Denken und Handeln … Geruch ist das Medium der Liebe und des Geliebtwerdens. Irgendwann wissen wir: Den Geruch, den Yang Ning sucht, hat sie schon einmal gerochen … an der Kleidung ihres kleinen Bruders, als er noch am Leben war. Bevor er sich umgebracht hat.
Die aufwühlende Reise führt Yang Ning immer mehr ins Zentrum ihrer eigenen Beschädigung.

»Mutter. Das Wort löste bei Yang Ning eine innerliche Blockade aus. Es klang unendlich fern, roch nach wütend verschossenem Schießpulver, einem Rest Asche, den der Wind aufwirbelte, bis er dann auf den Grund des Herzens sank und die Vergangenheit begrub. Die splitterhaften, herzzerreißenden, herrlichen Lügen begrub. Die Vorstellung an Zuhause war erstickend.« (Seite 242)
Neunzig Minuten, so lang wie der Zug von Zuhause nach Taipeh braucht, wo sie jetzt wohnt und lebt, braucht es im Krematorium, um einen Leichnam einzuäschern. Auf den 470 Seiten des Romans führt der Weg schließlich – ohne zu viel zu spoilern – auch zu einer Inkarnation von Norman Bates.

Die intermedialen Verweise des Romans sind spärlich, aber dezidiert gesetzt. Beim Verhör der Polizei kommt Yang Ning sich vor wie in einer Krimiserie. Neben Grenouille aus »Das Parfüm« gibt es auch Referenz auf Norman Bates aus Hitchcocks »Psycho« und den Satz
»Mama, ich bin ein Monster.
So wie du.«
Ein totes Auge rollt aus einer Müllpresse bis vor den Hosensaum eines Betrachters und starrt ihn an. Das Nachwort zitiert aus dem Hongkong-Film »Infernal Affairs« den Satz: »Once there was only dark. If you ask me, light is winning.« Katniss Hsiao arbeitet derzeit als Projektmanagerin für eine Filmproduktionsfirma in Taipeh und schreibt Drehbücher. Beim »Book-to-Screen Day« auf der Frankfurter Buchmesse erzählte sie bei von der Verfilmung ihres Bestsellers. In Taiwan sei es nicht üblich, Filmscripts zu veröffentlichen, deshalb habe sie es während ihres Studiums sehr genossen, viele Drehbücher zu lesen, darunter »Psycho«, »The Shining« oder »No Country for Old Men«.

Ihr Roman endet mit einem Punch, der mich an das Ende von Juan Jose Campanellas »In ihren Augen« (El secreto de sus ojos, Argentinien 2009, nach dem gleichnamigen Roman von Eduardo Sacheri) erinnert. 2015 gab es als Netflix-Produktion ein US-Remake, betitelt »Vor ihren Augen« und mit Julia Roberts, Chiwetel Ejiofor und Nicole Kidman in den Hauptrollen.

»Was bedeutet dieser Roman für mich?«, fragt Katniss Hsio sich im Nachwort. »Mir einen Begleiter zu erschaffen, einen Zufluchtsort, eine Umarmung, eine Geschichte, eine Ecke, in der es keine Rolle spielt, wenn die Wunden nicht schnell genug heilen.« Sie beschließt es mit dem Satz: »Möge ich in naher Zukunft einen zärtlicheren Blick auf das Leben haben.«

PS. Buchumschläge übrigens riechen für die Protagonistin des Romans nach warmem Blut. Immerhin.

Alf Mayer / Foto: © Victor Chen/Suhrkamp Verlag
Katniss Hsiao: Das Parfüm des Todes (Before We Were Monsters, 2022).
Aus dem taiwanischen Chinesisch von Karin Betz. Herausgegeben von Thomas Wörtche.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. Klappenbroschur, 483 S., 20 €.

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