Staatstheater Mainz zeigt die ukrainische Flucht-Komödie »non-existent«

Nicht ein einziges Mal fällt das Wort »Ukraine« im Stück »non-existent« von Natalka Vorozhbyt. Auch wenn das im vergangenen Februar in Essen uraufgeführte Auftragswerk beispielhaft für die Befindlichkeit aller durch Kriege aus dem gewohnten Leben gerissenen Flüchtigen stehen will, besticht der dargebrachte Weg von Großmutter Marija (Iris Atzwanger), ihrer Tochter Orysja (Tanja Kargaeva) und Teenager-Enkelin Daryna (Leandra Enders) in die Fremde in seiner Konkretion. Die 1975 in Kiew geborene Autorin schildert Selbsterlebtes auf ihrer Flucht mit Mutter, Tochter und Katertier nach Österreich und England – gipfelnd in ihrem titelgebenden Gefühl der Unwirklichkeit im Exil.
Schwere Kost also? Ja und nein, versteht sich »non-existent« doch auch in der Mainzer Inszenierung von Marc Becker als eine Komödie aus »leichten Szenen vor dem Hintergrund des Krieges«. Insbesondere lassen uns die chaplinesken Kapriolen der Flüchtigen in der neuen Umgebung schmunzeln: ein erschreckendes Läuten an der Tür, das sie fürchten lässt, bei der Mülltrennung gegen die Gesetze verstoßen zu haben; der Geschmack der sie an Kürbisse, nur süßer mit Haaren, erinnernden Mangos; die Entdeckung von Blumen, die nicht duften, und vieles mehr. Komische Situationen allesamt, die der Versuch, normal zu leben im Anormalen, im Ausnahmezustand, fast zwangsläufig gebiert. Dass es Alltag für die drei Frauen aus drei Generationen nicht geben kann, tritt in jeder Szene hervor, in ihren Gesprächen miteinander wie in den Begegnungen mit Eingeborenen, die sie mit gängigen Haltungen konfrontieren, die insbesondere für hoffentlich die meisten im Saal zum Fremdschämen sind. Dass indes auch Bundeskanzler Scholz als zaudernder Waffengott in Marijas Traum erscheint, hat sich vor einem Dreivierteljahr, als das Stück entstand, wohl noch nicht ganz so unglücklich angehört wie jetzt.
Grotesk – und im Kontext bemerkenswert – ist die Rolle von Orysjas Gatten Walik (Henner Momann), der per Live-Video immer wieder zugeschaltet wird. Er spielt der Tochter Daryna vor, an der Front für Vaterland zu kämpfen, hat sich in Wahrheit aber verkrochen. Den akustischen Hintergrund dazu liefern berstende Bomben und ratternde Gewehrsalven der Flugabwehr. Ein Mann, der aus Angst verweigert – gewiss kein einfaches Thema im aktuellen ukrainischen Diskurs.
Mit dem namenlos bleibenden sprechenden Kater (Armin Dillenberger) bringt Vorozhbyt eine starke surreale Note ins Spiel. Die Geschichte des im Programm »mit PTBS« ausgewiesenen Tieres, das nach dramatischer Flucht endlich Ruhe finden will, spiegelt all das, was von den drei Frauen weitgehend ausgeblendet bleibt. Nach einem erfolglosen Integrationsversuch beim vermeintlichen Kater Tschechow (!) in der Nachbarwohnung, der sich aber als eine Tschechowna entpuppt, kehrt der aus der Wohnung geprügelte Stubentiger von Kopf bis Fuß bandagiert als Versehrter wieder zurück.
Der 100-minütige Abend entwirft ein vielschichtiges Bild der Lage und Sehnsüchte dieser drei Generationen repräsentierenden Frauen im Exil. Die von Albträumen gequälte Daryna findet in der Schule nur zu einer Außenseiterin Kontakt, während ihre vergesslich werdende Großmama einen späten Frühling mit dem Rentner Otto (großartig auch hier Dillenberger), erlebt und ihre Mutter das, was als Familie noch existiert, zusammenhält an allen Fronten – auch an der in der Heimat, wenn sie unter dem Lärm detonierender Raketen – Einschlag hin, Einschlag her – mit Walik die Einrichtung der künftigen Wohnung bespricht.
Bühnenbildnerin Christina Kirk hat in die Rückwand der wie aus dem Sperrmüll bestückten Wohnung »in einem europäischen Land« ein Loch gerissen, das als Projektionsfläche für licht- und lärmgestützte Video-Animationen fungiert, die uns je nach Handlung mal eine Hochhaussiedlung à la Nordweststadt, einen Garten, die Suchscheinwerfer der Luftabwehr wie ein Glühwürmchenballett oder auch leckere Burger, die an Minifallschirmen zur Erde flocken (warum auch immer), zeigen. Der Krieg ist immer dabei, an einem nicht ganz glatten, aber sehr beeindruckenden Abend, auch wenn wir am Ende nicht so genau wissen, wo der Kater, Orysja und Walik wirklich geblieben sind.

Winnie Geipert / Foto: © De Da Productions
Termine: 2., 17. Januar, 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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