Sieben Jahre war er weg. Jetzt, mehr als ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs, kehrt Wieland Göth in sein von französischen Soldaten besetztes kleines Dorf in Rheinhessen zurück. Schon seine Kindheit lang war er als Lehrers Sohn ein Fremdkörper im Dorf, jetzt ist er ein Aussätziger. Am Ende der vierten Buchseite wissen wir, dass er zurückgekehrt ist, um einen Mann zu töten. Bis er auf ihn trifft, wird es Seite 133, aber auch dann ist noch lange nicht alles vorbei. Jürgen Heimbach, für seinen letzten Roman »Die rote Hand« 2020 mit dem »Glauser« ausgezeichnet, erzählt seine Geschichte sozusagen im Tempo eines Fußgängers und das ist eine Wohltat. Er gibt uns Zeit, das (fiktive) 500-Seelen-Dorf Rombelsheim kennenzulernen und die schwierige Zeit. Misstrauen, Verbitterung und Fremdenfeindlichkeit, Armut und beschränkte Horizonte, Familiengeheimnisse, Wilderei im Wald und eine Besatzungsmacht. »In den Märchen gibt es immer einen, der aus weiter Ferne zurückkommt, um sein Dorf zu befreien. Bist du so einer?«, wird Wieland einmal gefragt. Die Frage nach dem Motiv seiner Heimkehr ist eines der Spannungsmomente des Romans, längst nicht das einzige. Dem Erzähler Heimbach folgt man gerne in jedes Milieu – und hier gibt es Landleben satt. Anschaulich recherchiert, konturenreich und fremdartig nah wie eine alte Fotografie, in die man sich versenkt. Spannung, die von innen kommt, nicht aus Effekten.
Frage: Bisher war es eher die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Sie für Ihre Romane interessiert hat. Gab es einen bestimmten Anstoß, ins Jahr 1920 zu gehen?
Jürgen Heimbach: Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen interessiert mich schon lange, aber ich habe mich wegen der zeitlichen Distanz und den damit verbundenen Problemen bei der Recherche nur langsam literarisch daran herangetastet. So in einer älteren Kurzgeschichte mit dem Titel »Treu zum Rhein«, die den Separatismus im Rheinland zum Thema hat sowie in meinem Roman »Alte Feinde«, dem zweiten Teil meiner Nachkriegstrilogie. Thema darin ist die »Schwarze Schmach vom Rhein«, eine Kampagne gegen die Stationierung Schwarzer Soldaten im Rheinland und das Schicksal der damals so beschimpften »Rheinlandbastarde« – nur gespiegelt in das Jahr 1947. Die »Schwarze Schmach«-Kampagne spielt ja auch in »Vorboten« eine Rolle. Das waren, zumindest zurückblickend betrachtend, Übungen für die »Vorboten».
Frage: Was war dabei eine der größten Herausforderungen?
Heimbach: Die Recherche. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der ich mich bislang hauptsächlich in meinen Büchern beschäftigt habe, ist mir durch Erzählungen von Bekannten und Verwandten noch nah. Erschwerend bei den Recherchen zu »Vorboten« kam hinzu, dass in Deutschland der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis eine ganz andere Rolle als in Frankreich oder in Großbritannien spielt, wo man nicht vom Ersten Weltkrieg, sondern vom Großen Krieg spricht und wo alljährlich mit Veranstaltungen des Kriegsendes und der Opfer dieses Krieges gedacht wird.
Eine andere Herausforderung bei der Arbeit an »Vorboten« war, dass ich ein gleichzeitig sehr konkretes und sehr diffuses Bild der Grundstimmung und der Atmosphäre hatte. Weil ich die lange Zeit nicht zu fassen bekam, hat das zu entsprechend langen Pausen im Schreibprozess geführt, zu vielen dramaturgischen Überlegungen, Versuchen und Neuansätzen. Ich war lange sehr unzufrieden und erst, als ich den Text, vor allem im ersten Teil, stärker fragmentierte, sowie das Schlusskapitel in der jetzt vorliegenden Form geschrieben hatte, bekam ich dieses diffuse Bild in den Griff.
Frage: Was haben diese Vorboten aus dem Jahr 1920 mit uns heute zu tun?
Heimbach: Wenig und viel zugleich. Wir haben heute keinen verheerenden Krieg und keinen politischen Systemwechsel hinter uns, dafür fünfundsiebzig Jahre Demokratieerfahrung. Trotz der vielen sozialen Verwerfungen heute herrscht nicht die Armut und auch die Hoffnungslosigkeit jener Zeit, ist die Gesellschaft nicht dermaßen gespalten. Das macht es den Spaltern und Demokratiefeinden heute schwerer, sich durchzusetzen. Aber es gibt sie und sie werden mehr, zumindest suggeriert das deren mediale Präsenz. Und die Anschläge und Morde des NSU, in Hanau, in Halle und an vielen anderen Orten zeigen jedes Mal, dass diese Menschen zu äußerster Brutalität und Gewalt bereit sind. Wie in der Weimarer Republik gibt es diejenigen, die unsere Demokratie und deren Institutionen von innen heraus zu zerstören suchen. Wie wir es in den letzten Jahren etwa auch in Polen und Ungarn und den USA erleben und erlebt haben, dass gewählte Volksvertreter Grundrechte, Presse- und Meinungsfreiheit beschneiden und Institutionen des Rechtsstaates auflösen.
Frage: Und gab es ja damals auch einen Virus …
Heimbach: Ja, nachträglich finde ich das sehr spannend. 1920 klang die dritte Welle der Spanischen Grippe aus, die zwischen 50 und 100 Millionen Menschenleben forderte. Sie war, zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im letzten Jahr, weitestgehend in Vergessenheit geraten. Wie wird man in 50 oder 100 Jahren auf die Corona-Pandemie schauen? Wird sie ebenso vergessen sein? Oder sind die durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen bzw. erzwungenen Veränderungen so groß und nachhaltig, dass sie noch lange in Erinnerung bleiben werden?
Frage: Sie sind doch wohl eher ein Stadtkind, in Koblenz geboren. Wie ist es, sich ein 500-Seelendorf zu erfinden wie Ihr fiktives Rombelsheim, wohin die Hauptfigur Wieland Göth zurückkehrt?
Heimbach: Ich bin der Meinung, dass sich die Menschen in ihren Ängsten, Hoffnungen, ihrer Suche nach Anerkennung und Liebe, ihrem Hass und ihrer Gewalttätigkeit und all dem auf dem Land und in der Stadt nicht grundsätzlich unterscheiden. In diesem Punkt war ich vor die gleichen Herausforderungen gestellt, wenn der Roman in der Stadt spielen würde, nämlich glaubhafte Charaktere zu schaffen. Schwieriger war die Arbeit bezüglich der Lebensumstände, nicht nur auf dem Dorf, sondern auf dem Dorf im Jahr 1920. Das sind dann ganz konkrete Fragen: Welche Arbeit gibt es? Welche Berufe? Wie ist die Verkehrssituation, wie weit die Elektrifizierung vorangeschritten? Wie war die Verbindung zur Außenwelt, wie lange brauchten Nachrichten aus der Welt, um ins Dorf zu gelangen? Und noch viele solcher Fragen.
Frage: Details von Wilderei in den Wäldern, Bucheckern-Kaffee, die Kriegszitterer, die politischen Zustände in Berlin und in der Provinz – wie aufwendig ist Ihre Recherche für ein Buch?
Heimbach: Generell nimmt die Recherche bei mir einen sehr großen Raum ein, ich mache sie sehr gerne, auch, weil ich dabei auf viel Neues und Interessantes stoße, das dann die Initialzündung für eine neue Geschichte, einen neuen Roman sein kann. Bei den »Vorboten« war die Recherche einerseits so aufwendig wie die zu meinen anderen Romanen, unterschied sich andererseits aber dadurch, dass die Quellenlage schwieriger war. Das lässt sich gut am Beispiel der Fotographie aufzeigen. Ich lasse mich stark von Fotos inspirieren. Aber 1920 war das noch kein Massenmedium, Kameras waren noch groß und schwer, das Prozedere der Bildherstellung umständlich und teuer. Und wer hatte schon Interesse an Bildern von Bauern und Arbeitern? Daher musste ich lange in Archiven suchen, bis ich fündig wurde, hatte dann auch das Glück, auf einem Flohmarkt einen älteren Bildband mit Aufnahmen aus dieser Zeit und in dieser Region zu finden. Was die allgemeinen historischen Hintergründe, also die Zustände in Berlin, die physischen und psychischen Folgen des Krieges, angeht, recherchiere ich in Büchern, Zeitungen aus jener Zeit, im Netz und in Archiven. Die Wilderei war mir in dem Roman wichtig, weil sie ein sehr anschaulicher Ausdruck der Armut und gleichzeitig der Herrschaftsverhältnisse ist.
Frage: Was ist das Interessante oder Besondere an Rheinhessen?
Heimbach: Rheinhessen kann auf eine lange gemeinsame Geschichte mit Frankreich zurückblicken, war mehrmals im Laufe der Jahrhunderte von französischen Truppen besetzt gewesen, gehörte sogar Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zu Frankreich, und viel Französisches ist in die Lebensweise und den Sprachgebrauch Rheinhessens eingeflossen. Interessant ist, und das hatte ich nie beabsichtigt, dass Frankreich in meinen letzten fünf Romanen eine wichtige Rolle spielt: die französische Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg in meiner Nachkriegstrilogie, in der mein Protagonist ja aus dem französischen Exil zurückkehrt, die französische Kulturpolitik nach dem Krieg, in der »Roten Hand« die Aktivitäten des französischen Geheimdienstes in Deutschland und der Krieg in Algerien und jetzt die Alliierte Rheinlandbesetzung zwischen 1919 und 1930.
Frage: Wie schreiben Sie? Sie haben ja einen Beruf. Gibt es Routinen?
Heimbach: Der Umstand, dass ich zwei Berufe habe, die des Redakteurs und die des Schriftstellers, erfordert in der Tat bestimmte Routinen und auch Erfahrung, wie ich mich und meine Zeit organisiere. Es gibt bei mir grob gesagt drei Phasen bei der Entstehung eines neuen Buches. Die erste ist die des Recherchierens und Entwickelns der Geschichte, die zweite die Niederschrift und die dritte die Überarbeitung. Für die erste und dritte Phase kann ich mich spontan an Schreibtisch setzen, wenn die Zeit es zulässt, das können ein oder zwei Stunden sein oder ein Wochenende. Anders ist es bei der zweiten Phase, der Niederschrift. Für die brauche ich Zeit am Stück, um in einen Flow zu kommen, um nicht jedes Mal wieder den Text vom Vor- und Vorvortag lesen zu müssen. Der große beruhigende Moment ist dann der, wenn ich die Rohschrift abgeschlossen habe. Die dritte Phase kann ich dann viel gelassener angehen.
Frage: Wie weit bestimmen ihre Stoffe die Form? Oder anders gefragt: Welche Rolle spielt für Sie der Kriminalroman?
Heimbach: Ein spannendes Thema. In meinen früheren Romanen und auch in der Nachkriegstrilogie bin ich noch dem klassischen Kriminalroman mit einem ermittelnden Polizisten bzw. Polizistin verhaftet. Hier wird mein Protagonist Paul Koch nach Jahren des Exils in Frankreich nach seiner Rückkehr Ende 1945 als sogenannter Unbelasteter mit Genehmigung der Franzosen in den Polizeidienst aufgenommen und Koch blickt als von außen Kommender auf die Zustände in Deutschland nach dem Krieg und das Fortleben der Nazizeit. Weshalb er immer wieder mit seinen Kollegen und Vorgesetzten aneinandergerät und mehr als einmal Deutschland den Rücken kehren will. Inzwischen ist es – für mich – spannender und interessanter, auch weil es mir mehr Freiheiten gibt, an die Grenzen des Genres zu gehen, keine klassischen Ermittlerkrimis zu schreiben, sondern das Verbrechen als Movens für die Figuren zu nutzen und über die Zeit, die Verwerfungen und die Zeitumstände zu schreiben.
Frage: Sie sind ja auch Lesepate an Schulen und setzen sich für Leseförderung ein. Was lernen Sie dabei über die Zukunft des Buches?
Heimbach: Dass die Zukunft nicht ganz so düster ist, wie sie manchmal beschrieben wird. Dass es ein Interesse bei jungen Menschen an geschriebenen Geschichten gibt. Zumindest gut geschriebenen. Dass man junge Menschen an Literatur heranführen muss. Da kann ich als Lesepate eine Vermittlerrolle einnehmen. Man muss aber auch akzeptieren, dass das Buch heute in großer Konkurrenz mit anderen Medien steht und sich als gleichberechtigten Teil dieser Vielfalt begreifen muss.
Alf Mayer
Foto: © Elisa Biscotti
Jürgen Heimbach: Vorboten. Unionsverlag, Zürich 2021. 224 Seiten, Broschur, 18 Euro.
Ebenfalls von ihm: Die rote Hand (2019), Offene Wunden (2016), Alte Feinde (2014), Unter Trümmern (2012), Chagalls Rache (2011), Plötzlicher Tod einer Nutte (2009), Johannes’ Nacht (2008).