Einfach grandios – »Orlando« in der Regie von Katrin Spira und Anselm Weber am Schauspiel Frankfurt

»Und schließlich habe ich meinen Kopf in die Hände gelegt, habe meine Feder in die Tinte getaucht und wie automatisch auf einen leeren Bogen geschrieben: Orlando: Eine Biografie. Kaum hatte ich das getan, geriet ich in eine Art Ekstase, ich schrieb mühelos bis um zwölf. Ich werde mir das Vergnügen gönnen, eine Woche lang daran herumzuschreiben.« So notiert es Virginia Woolf in ihrem Tagebuch.
Aus dem Vergnügen wurde eine Orgie. Die britische Schriftstellerin – von rasender Intellektualität und spitzigem Humor, Erfinderin des »stream of consciousness« der stetigen Selbstbefragung in der Literatur und eine fragile Schönheit – schrieb rasch und ungestüm ein so federleichtes, heiteres, höchst intelligentes, spritziges, beziehungsreiches Feuerwerk, dass es fast die Autorensignatur ihrer anderen Werke sprengte, und nebenbei ihren Geldbeutel füllte; sie war für unzugänglichere Stoffe bekannt.
»Orlando« für die Bühne zu erobern, daran haben sich Katrin Spira und Anselm Weber jetzt gewagt. Das Thema ist indes alles andere als leicht, für die Bühne ist es eine Herausforderung. Denn Orlando beginnt seine über vierhundert Jahre währende Lebenszeit als Mann und ist von seinem 30. Lebensjahr an eine Frau, oder ist er wirklich eine Frau, ist sie tatsächlich ein Mann? Und was bedeutet dies denn überhaupt? Über die Jahrhunderte hinweg stets das Gleiche oder doch nicht? Welche Rollen sind festgezurrt, welche durchlässig? Die Latte für eine künstlerische Adaption des Romanstoffs hat beispielsweise Derek Jarman mit Tilda Swinton in der Titelrolle ziemlich hochgelegt. Als Spiegel der Zeit könnte man »Orlando« derzeit wohlfeil verwerten, indem man das mühelose Wandeln zwischen den Geschlechtern den heutigen Rollendebatten einverleibt.
Doch schon das erste Bild macht klar, dass das Regieteam nichts weniger wünscht als das. Auf einer Schiefertafel erscheinen wie von Zauberhand geschrieben Sätze aus dem »Orlando«, eine zarte Musikarabeske setzt ein (Komposition Clara Pazzini), erinnert wie von fern ein ganz klein wenig an Michael Nymans Filmmusik zum »Der Kontrakt des Zeichners« und lässt das Publikum wissen: Hier ist Orlando, hier ist Virginia Woolf, hier ist dieses Märchen, diese Collage einer Coming of Age-Geschichte eines jungen Mannes/einer jungen Frau mit schriftstellerischen Ambitionen. Ein Geschlechter-Verwirrspiel und eine Parodie auf Zeit und Raum und Literatur gleichermaßen – und wir machen jetzt das Beste draus.
Eine Theaterbühne könnte wohl kaum die unglaubliche Bilderflut nachstellen, die Virginia Woolf in ihrem epochalen Roman entfaltet hat, mit dieser Reise von englischen Grafschaften und Adelsschlössern in ausgedehnten Wald- und Wiesenlandschaften hinein ins vorindustrielle, später industrielle London und nach Konstantinopel. Spira und Weber vertrauen auf die Hirne der Zuschauer*innen, sich das alles vorzustellen, und vertrauen dem Text. Die kahle shakespearesche Bühne verweigert sich der dekorativen Bebilderung, lediglich ein Sofa steht dort. Ein Sofa, auf dem man sich Märchen erzählt. Die äußeren und inneren Welten auf die Bretter zu bringen überlässt die Regie der Virtuosität der Schauspieler*innen. Starke Reduktion bei der Textfassung, die sich auf die Fragen nach dem wahren, dem richtigen Leben durch alle Epochen konzentriert, die Fragen nach gesellschaftlichen Normen – und wie man sie am besten ignoriert. Der stetige Wandel zwischen den Geschlechtern nicht nur bei Orlando bleibt wie im Roman ein Quell der bitteren Einsicht in Rollenvorgaben, aber auch der Heiterkeit und des lustigen Spiels.
Annie Novak und Sonja Beißwenger erzählen, spielen Orlando, repräsentieren das von Virginia Woolf als Dualität in einer idealisierten Person zusammengeträumte Weibliche und Männliche, Anima und Animus. Sie sind brillant, witzig, boshaft. Nachdenklich und freimütig gewähren sie Einblicke in Orlandos ebenso fragile wie dem Leben zugewandte Persönlichkeit. Sie entfalten eine Vielstimmigkeit des Ich bis zur Androgynität, die nicht vordergründig frauenpolitischen Interessen dient. Diese Vielstimmigkeit zeigen sie als Prozesse des Widerstands, der Persönlichkeitsentwicklung, der Autonomie aber auch des Alleinseins und der Vereinzelung.
Zu dieser Erzählebene gesellt sich eine ausgeklügelte Lichtregie, die den aus den vier Jahrhunderten auftauchenden Figuren ein Tableau für ihr komödiantisch-ironisches Spiel bietet. Angelika Bartsch, Marc Tumba, André Meyer und Rokhi Müller machen umwerfende und scharf geschnittene Miniaturen im Stil der Commedia dell’Arte und der Stummfilme des 20. Jahrhunderts daraus. Ihnen genügen ein, zwei Gesten, um eine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. »Ich spieße die Zeit mit der Feder auf« schrieb Woolf. Die präzise Expressivität des Spiels leitet sich förmlich von dieser Vorgabe ab.
Es ist keine Schwere in dieser Biografie, und es ist auch keine Schwere in der Inszenierung. Sie konzentriert sich darauf, ein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben zu sein, für die Verwirklichung eines Lebens jenseits der Konventionen, deren Preis sie nicht unterschlägt. Choreografie (Zöe Knights) und Lieder und Popsongs von Henry Purcell bis David Bowie und Billie Eilish (Einstudierung: Christina Lutz) sind die Brücken, welche die Regie dem »Orlando« ins Heute baut. Ganz wunderbar. Museale Bewunderung, Verwurstung von Genderdebatten – gleichermaßen Fehlanzeige.

Susanne Asal / Fotos: © Jessica Schäfer
Termine: 10., 24., 25. November, 19.30 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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