Nun also ein neuer Held. Der Australier Garry Disher, jetzt im August 73 geworden und unermüdlich kreativ, legt seit 20 Jahren zuverlässig jedes Jahr einen neuen Kriminalroman vor. Und das geradezu unheimlich beständig stets auf Weltklasse-Niveau. Es gibt nur wenige Autoren in diesem Genre, die ihm das Wasser reichen können, ein solcher Reichtum jedoch an immens guten Büchern und Geschichten, prall und lebensecht, ist unerreicht. Vier Mal „Deutscher Krimi Preis“ und vier Mal der australische „Ned Kelly Award“, darunter auch die Auszeichnung für sein Lebenswerk, unterstreichen das. Im deutschsprachigen Raum erscheinen seine Bücher im Zürcher Unionsverlag, der Berliner Verlag Pulp Master verlegt ausschließlich Garry Dishers Romane mit dem Räuber Wyatt.
Seit 1991 und „Kickback“ (deutsch: „Gier“, 1999) sind bisher neun lakonische Romane mit dem stoischen Berufsverbrecher erschienen. Zuletzt „Killshot“ (deutsch: „Moder“, 2021). Zwischen 1999 und 2016 gab es sieben Romane mit dem Polizeiinspektor Hal Challis. Sie waren es, die Dishers internationalen Ruf als begnadeter Erzähler komplexer Geschichten begründeten. Dazu kamen bisher drei Romane mit dem ins öde Hinterland versetzten Constable Paul „Hirsch“ Hirschhausen, für November 2022 ist mit „Day’s End“ ein vierter angekündigt. Ein geradezu klassischer Fall also, wie eine Figur ihr Eigenleben entfaltet und vom Autor erneuten Auftritt verlangt. Eigentlich war Hirsch als Einzelroman angelegt. So wie auch der Polizist Alan Auhl in „Kaltes Licht“ und nun Charlie Deravin mit „Stunde der Flut“.
21 Kriminalromane, wenn ich richtig zusammenzähle, umfasst also bisher Garry Dishers Œuvre, insgesamt weist seine Bibliographie über 50 Romane und Kinderbücher auf. Ein äußerst erfahrener Autor also – bereits 1983 mit dem Ratgeber „Writing Fiction: An Introduction to the Craft“ – und einer, den es immer wieder reizt, die eigenen Grenzen und Komfortzonen zu durchbrechen.
Dieses Mal tut er das nicht nur mit einer neuen Polizistenfigur. Sondern auch mit einer neuen Erzählperspektive. Abgesehen vom Verbrecher Wyatt sind Dishers Krimi-Protagonisten Polizisten, seine Bücher also Polizeiromane – ein eigenes Subgenre, zu großer Form gebracht von Ed McBain, Joseph Wambaugh und in Europa von Sjöwall/ Wahlöö. Erzählkonvention ist es hier, einer Ermittlung zu folgen und die Welt aus der Polizistenperspektive zu erleben. (Im Fernsehen ist dieses Pferd seit anno dunno von Columbo, Derrick, Fahnder, Hafenpolizei, Brücke, Tatort und 200.000 anderen Serien nicht tot zu reiten.)
Ein überaus ergiebiges, robustes Format also. Die Polizeiromane von Garry Disher dabei jedoch die Kronjuwelen. Von mir einmal hier im „strandgut“ so formuliert: „Nach einem Challis-Buch, so erlebte ich es bisher jedes Mal, leide ich Tage unter einem Trennungsschmerz, ertappe mich bei Entzugserscheinungen. Garry Dishers Charaktere erscheinen mir real, wie wirkliche Menschen, die eine Existenz auch außerhalb seiner Romane haben. Man würde sie gerne treffen. Sie sind aus Fleisch und Blut, sind nuancierte Charaktere, sie leiden und lieben, hoffen und bangen, machen Fehler.“
Tobias Gohlis, Begründer der Krimibestenliste, sagte es so: „Seine Tableaus erzählen vielschichtig und immer konkret von Menschen. Die großen Fragen nach Gerechtigkeit und Gleichheit haben bei Disher so viele Facetten wie die Gesichter seiner äußerst lebendigen Figuren. Disher bringt uns Australien nahe, als moderne, gewalttätige, widersprüchliche Gesellschaft, fern aller touristischen Klischees. Und mit leisem Humor: Als seine Bosse ihn zu sehr piesacken, begibt sich Challis einfach auf Urlaub in Europa.“
Nun also ein neuer Held. Ein suspendierter Polizist, der gegen einen Vorgesetzen handgreiflich geworden war. An den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt – und entschlossen, das große Familiengeheimnis zu klären. Nämlich den Mörder seiner Mutter zu finden. Der Hauptverdächtige, immer noch: der eigene Vater. Ebenfalls Polizist. Der Kindheitsort Menlo Beach ein Refugium für eine ganze Handvoll Polizisten. Männer einer anderen Generation. So wie sein Vater wollte Charlie nie werden. Ein Buch also auch über Männer und ihr Verhältnis zu Frauen. Zur Gewalt.
Der Roman spielt Dezember 2019 bis Februar 2020. In Australien wüten Buschbrände, in den Nachrichten mehren sich Berichte über eine große Seuche. Und Charlie, mit seiner Vergangenheit und Herkunft konfrontiert, begegnet einer eigenen Art von Virus, nämlich dem Gift, das seine Beziehungsfähigkeit zur Welt kontaminiert hat – der toxischen Männlichkeit.
Dies wie immer bei Disher großartig und sinnlich erzählt: „Show, don’t tell“. Großartige Szenen und Dialoge, manchmal gar ein Hang zum Grotesken. Das Leben als großer Karneval. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Garry Disher versteht es, Menschen UND Schauplätze in nur wenigen Zeilen zu prallem Leben zu erwecken. Ihm als Erzähler zu folgen, ist eine Freude. Auch in diesem Buch weiß man nach nur wenigen Seiten, dass es sich lohnen wird. Man muss nicht wissen, dass Disher für diesen Roman an den Schauplatz der Hal-Challis-Romane auf die Mornington Peninsula südlich von Melbourne zurückgekehrt ist. Man muss nicht wissen, dass er selbst dort wohnt, dass der Strand, den er samt Personal, Hunden und Licht so meisterhaft beschreibt, fast tägliche seine Wanderstrecke ist. Man muss nicht wissen, dass er sich für diese Rückkehr vor die eigene Haustür eine erzählerisch ambitionierte Schwelle gesetzt hat, mit der er das Genre des Polizeiromans insgesamt neu reflektiert und erzählt – und damit unser Lesevergnügen mehr als verdoppelt. Schon bisher war Disher ein Meister darin, ein ganzes Dutzend Erzählstränge zu bündeln und ohne jede Deux-ex-Machina-Mechanik zusammenzuführen und nachvollziehbar aufzulösen, also bei aller Komplexität innerhalb der Erzählstrukturen und ganz und gar auf dem Teppich zu bleiben. Uns das bunte Leben in seiner ganzen Fülle unterhaltsam und sinnstiftend abzubilden.
Ein Polizeiroman fächert Verdächtige, Zeugen, Indizien und Theorien auf. Die Ermittlungen im Team und die Institution der Polizei als Sammelanstalt von allerlei Hinweisen sorgen für Bewegung im Fall und auf allen Ebenen für eine gewisse Professionalität. Der Privatdetektiv-Roman traut im Kern (außer in den allerbrävsten deutschen Regio-Krimis) der Polizei nicht, führt seine eigenen Ermittlungen, macht und hat seinen eigenen Sinn, ist per se „staatsferner“ und subversiv (obwohl es auch hier genug grauenhaft Braves gibt).
Was Garry Disher uns in „Stunde der Flut“ bietet, ist ein Polizeiroman, in dem der Polizist nur mit halbem Wissen – eben dem des Privatermittlers – Detektiv spielen kann, aber weiß (und uns vermittelt), wie man es richtig machen würde. Richtig machen müsste. Er wie wir begegnen so immer wieder „jenem Polizistenlächeln, vollgestopft mit internem Wissen“, das mit Zivilisten nie geteilt werden würde. Für Charlie Deravin gilt: „Er war frei. Aber er fühlte sich nicht frei. Er hatte keine Lizenz als Detektiv. Er hatte keine Unterstützung, keinen Partner, nur feindlich gesonnene ehemalige Kollegen. Er hatte keinen Zugang zu Telefonunterlagen, Steuer-, Bank- und Fahrzeugeinträgen. Und was die ungelösten Fälle betraf, niemals würde er Zugang zu irgendwelchen Akten bekommen.“ Weiterhin aber gilt für ihn „sein Polizeimantra: Glaube niemandem, nimm nichts als gegeben, es sei denn, du hast Beweise.“ Am Strand, auf dem Charlie seine Kindheit und Jugend verbrachte, kommt es zum Showdown. Slapstickhaft. Lakonisch. Kurz. Triumphieren ist Sache von Dishers Helden nicht. Nur das kleine Glück. Wir Leserinnen und Leser bekommen das größere Ende. Immer. Bei ihm.
Alf Mayer / Foto: © Lucy Healey