Frankfurt liest ein Buch: »Streulicht« von Deniz Ohde

Deniz Ohde: Streulicht Suhrkamp Verlag Festivalausgabe mit Nachwort der Autorin (2022) Fester Einband, 287 S., 18 €

Es ist ein besonderer Blick, den die Autorin Deniz Ohde retrospektiv auf ihre Heimatstadt wirft, er hat etwas Unverstelltes, Nüchternes, Unerbittliches, und er verbindet in autofiktionaler Form die Geschehnisse der Welt mit einer persönlichen Biografie – doch halt, nicht mit ihrer Autobiografie, das betont die junge Schriftstellerin immer wieder. Und auch wenn man ihren Roman einreihen kann in die derzeit so populären Lektüren der Autofiktion, denen oft etwas Larmoyantes, Weinerliches anhaftet, so darf man sie durchaus in Gesellschaft einer Annie Ernaux, einem Didier Eribon und Édouard Louis sehen, denn mit der gleichen strahlenden Intelligenz schreibt sie. Da ist nichts Beschwerde-Führendes darin, sondern Analytisch-Reportagenhaftes und eine unbestechliche Form der Beobachtung, die herausragen aus den vielen Formen der literarischen Selbstbespiegelung.
»Streulicht«, als Bildungsroman apostrophiert, lädt also ein, in wenig glamouröse Winkel der Stadt zu blicken und sich umzuschauen in der Welt der Arbeitsemigranten. Die Autorin wurde 1988 in Sindlingen geboren, über das der Industriepark Hoechst mehr als nur seine Schatten wirft. Das Zurecht-Finden, ja Eingliedern in dieser Welt als Tochter aus der Türkei stammenden Eltern (Deniz Ohde hat eine deutsche Mutter), der Hürdenlauf ihrer Bildungsbiografie, die angenommenen Hilfs-Arbeiten, die tiefe, gleichzeitig distanzierte Verbundenheit mit ihrer Familie sind Stationen auf einem Weg, den nachzugehen gleichsam ein sehr berührender Erkenntnisgewinn für die Leserschaft ist. »Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren, rußgeboren, geboren aus den Flusswiesen zwischen den Strommasten am Ufer eines schwefligen dunklen Wassers unter einer Dunstglocke säuerlicher Luft …«
Mit »Streulicht« fiel die Wahl auf ein Debüt aus dem Suhrkamp Verlag. Deniz Ohde ist gleich mehrfach ausgezeichnet worden, mit dem Literaturpreis der aspekte-Redaktion und dem der Erich-Ponto-Stiftung, der Roman befand sich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises im Jahr 2020. »Frankfurt liest ein Buch« – dieser einzigartige Dialog, in dem Literatur tatsächlich in Austausch mit ihrer Leserschaft tritt, verspricht in diesem Jahr nicht nur gesellschaftspolitisch aufzuwühlen, aber vermutlich vor allem.

Susanne Asal / Foto: © Heike Steinweg /Suhrkamp Verlag
Vom 24. April bis 7. Mai:
Veranstaltungen, Lesungen, Stadtrundgänge
www.frankfurt-liest-ein-buch.de

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