Theater Willy Praml wandelt in Tschechows »Der Kirschgarten«

Kein schlechtes Ratespiel für Theater-Fans: Die Inszenierung von Anton Tschechows »Der Kirschgarten« durch das Ensemble des Theaters Willy Praml in der Naxoshalle ließe sich auch als ein literarischer Wettbewerb organisieren. Um die sich am maroden Wirtschaftshof von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja nahe Charkow (!) versammelnde Gesellschaft in Szene zu setzen, hält es den Hausregisseur Michael Weber nicht bei der Vorlage. Er illustriert die Figuren des 1904 uraufgeführten letzten großen Bühnenwerks des russischen Autors mit üppigen Anleihen aus dessen anderen populären Werken – welche die Theaterwelt stets für Dramen, ihr Schöpfer aber für Komödien gehalten hat. (Davon weiß das Programm-Heft.) Man könnte folglich darüber nachdenken, ob die Charaktere, die Tschechow für die Bühne ersann, ähnlich wie die Comedia-dell-arte-Typen stets wiederkehrende sind, muss es aber nicht. Es sind Menschen in einer Zeitenwende, die allem Hergebrachtem spürbar den Boden unter den Füßen wegzieht, und das, was bevorsteht, noch nicht fassen lässt. Die unbegriffen ist von allen Seiten.
Dazu passt, dass einer der ersten Sätze an diesem Abend völlig apodiktisch daherkommt und zugleich eine Unmöglichkeit beschreibt: »Jeder muss wissen, wer er ist«, herrscht Bettina Heusers Warja, Pflegetochter der anreisenden Gutsbesitzerin, das sich für den hohen Besuch aufhübschende Dienstmädchen Dunjascha (Rebekka Waitz) rüde an. Und schon sind wir mitten im großen Thema dieser Menschen.
Doch zurück zum Anfang: »Zieht euch warm an!« hatte die Theatersprecherin Andrea Hagel schon im Vorfeld gemahnt. Die an das westliche Ende der zugigen alten Fabrikhalle platzierte Tribüne ist wie immer mit wärmenden Plaids ausgestattet und gar von Heizpilzen beschienen. Dem sich einkuschelndem Publikum knallt ein gleisendes Licht den mit blendenden weißen Planen wellig überzogenen riesigen Spielort frei, verstreut im Raum leuchten mannsgroß acht knallrote Kuschelplüschbären auf, die denn auch bald weidlich genutzt werden. Vorboten der Revolution? Sie verschwinden im Lauf des Spiels bis auf einen, der stranguliert hoch oben im Hallenhimmel hängt. Zunächst aber eine Idylle, ein romantisches Bild. Ganz weit hinten steht ein durchgängig weißhaariges Senioreninnen-Septett plus Senior, das man für einen kleinen Silbersee halten könnte, aber für den blühenden Kirschgarten halten soll, in goldene und rote Jacken sowie weißes Beintuch gehüllt mit dürren Ästchen in den Händen. Es ist ein Garten, der sich wie der Wald von Birnam bald in Bewegung setzt, Volkslieder singt und Kindergedichte deklamiert – und am Ende im Kleinlastwagen zum Abtransport landet.
Ehedem wirtschaftlich hat der mit großen Erinnerungen beladene Augapfel der Region das zur Zwangsversteigerung stehende Landgut ruiniert und wird, das ist der Clou dieses Stücks, vom Kaufmann Lopachin, dem Enkel eines ehemaligen Leibeigenen dieses Hofs, übernommen, um Platz für Datschen zu schaffen. Der die neue Zeit, sprich: das kapitalistische Denken, verkörpernde Aufsteiger wird von Jakob Gail groß verkörpert. Über zwei pralle Stunden bringt ein wahrhaft buntes Personenkaleidoskop den tschechowschen Kosmos zum Leuchten. Es wird philosophiert und nachgedacht über die Welt, den Menschen, die Natur und sogar das Klima, und es wird aneinander vorbei geredet, gelebt und zumeist auch geliebt – ohne Ende. Ljubows leibliches Töchterchen Anna (Hannah Bröder) und der Student Pjotr (Florian Schongar) finden »über der Liebe« ihren (Steh-Platz), ihr bonbon-vertilgender nichtsnutziger Bruder Gajew (Muawia Harb) landet warum auch immer in einer Bank, die unglückliche Warja (Bettina Heuser), bei der doch alles auf eine Zukunft mit Lopachin zulief, wird Hausangestellte irgendwo, während der permanent mit einer Pistole herumfuchtelnde Kontorist Jepichodow (Reinhold Behling) irgendwo beim neuen Herrn unterkommen wird. Dunjascha aber könnte nach Webers Inszenierung eine freie Künstlerin werden. Rebekka Waitz, die in ihrer ersten Bühnenrolle für das Theater sowas wie die Entdeckung des Abends ist, gibt hier mit kryptischen Videos die kritische Künstlerin. Anna Staabs hochpräsente, aber schwer zu greifende Ljubow, wendet sich mit frischem Kirschgartenkapital ausgestattet in Selbstvergessenheit wieder ihren Liebesträumen im fernen Paris zu. Nur der alte Firs, völlig verloren, aber auch völlig unnahbar von Willy Praml gespielt, bleibt zu Tschaikowskis F-Moll-Romanze mit einem grünsprießenden Zweig in der Hand zurück. Ein letztes mächtiges Bild an einem bilderstarken Abend, zu dem auch ein in drei Lichtkegel gestreuter Tanz und ein sich über die Halle ausbreitendes wurmiges Schattengewusel beitragen.

Winnie Geipert / Foto: © Seweryn Zelazny
Termine: 14., 15., 16., 21., 22., 23., 28., 30. April, 20 Uhr
www.theaterwillypraml.de

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