Immer wieder werden die Pariser Banlieues äußerst kritisch betrachtet. Die Problemviertel am Rande der französischen Hauptstadt bieten sich als Schauplatz in sozialkritischen Filmen an, wie etwa in Ladj Lys grandiosem Polizeifilm »Die Wütenden – Les Misérables«. Konträr zu dessen gesellschaftspolitischen Anklage haben Fanny Liatard und Jérémy Trouilh einen sehr persönlichen, ja sogar poetischen Blickwinkel gewählt.
Ihr Film, der im Original schlicht »Gagarine« heißt, berichtet von einem Ort, der einem 16-Jährigen zum Lebensmittelpunkt geworden ist. Hier wohnt er seit seiner Geburt, und hier träumt er von einem Leben als Astronaut (oder Kosmonaut). Die Rede ist von der Cité Gagarine, einem rot-weißen Monsterbau mit Sozialwohnungen.
In den 1960er Jahren wurde er errichtet, als die kommunistische Regierung von Ivry-sur-Seine sich an dem roten Gürtel um Paris beteiligen wollte. Das Projekt sollte – und daran ist auch zu erinnern – den Menschen in den damaligen Slums ein würdiges Zuhause bieten. Die guten Beziehungen der französischen Kommunisten zur Sowjetunion verhalfen dem Ort zu seinem Namen und zum Besuch Yuri Gagarins, des ersten Kosmonauten, wie die Astronauten in Osteuropa hießen, zur Einweihungsfeier.
Der Film beginnt mit schwarz-weißen Dokumentaraufnahmen vom begeisterten Empfang der Bewohner. Unter ihnen dürften sich auch Youris Eltern befunden haben, die ihren Sohn offenbar nach dem Namenspatron ihres Heims benannt haben. In dessen Fußstapfen zu treten, in diesen Traum flüchtet sich der herangewachsene Farbige Youri (Alséni Bathily).
Vor dem drohenden Abriss des Hochhauskomplexes, der mittlerweile zu einem Problemfall geworden ist, mobilisiert Youri alle Kräfte für dessen Erhalt. Reste des einzigen Zusammenhalts der Bewohner, der alten Gemeinschaft sind ja noch vorhanden. Mit seinem Freund Houssam (Jamil McCraven) übertüncht er Graffiti (und gerät dabei in Handgreiflichkeiten mit Gleichaltrigen), repariert den defekten Aufzug, und um kaputte Leuchtstoffröhren zu ersetzen, verkauft Youri den Schmuck seiner Mutter, die ihn mit einem neuen Liebhaber verlassen hat.
Durch Houssam lernt er die charmante Diana (Lyna Khoudri) kennen, die in einer nahe gelegenen Wohnwagen-Siedlung der Roma lebt. Mit ihr, die spontanen Optimismus in den Film bringt, tauscht Youri seinen vermutlich ersten Kuss und übt das Morse-Alphabet, was später eine wichtige Rolle spielen wird. Dann, wenn nicht nur der Wohnblock, sondern auch die Roma-Siedlung weichen muss, droht auch Youri, dem letzten Bewohner, ein gewaltsames Ende.
Der erste Spielfilm von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh beruht auf ihrem gleichnamigen Kurzfilm von 2015, der Interviews mit den Gagarine-Bewohnern nach dem Abrissbeschluss enthält. Aus diesem Material haben sie die filmisch beeindruckende Schilderung einer Obsession gemacht, bei der sich ein Hochhaus in ein Raumschiff verwandelt.
Augenzwinkernd unterlaufen sie die gängigen Vorurteile über die Bevölkerung in den Banlieues. So unterhält Youri in den Höhen des Hauses ein Gewächshaus mit Gemüse, nicht mit Cannabis, denn davon könnte er sich im Weltraum nicht ausreichend ernähren. Dass der Wettbewerbsbeitrag von Cannes im Jahr 2020 immerhin jetzt in die deutschen Kinos kommt, ist der mutigen Initiative eines kleinen Bonner Verleihs zu verdanken, der sich auf ungewöhnliche Filme spezialisiert hat. Schön wäre es, wenn wir auch Zugang zu dem 16-minütigen Kurzfilm bekämen – auf welchem Weg auch immer.