Nine-eleven ist die Kurzformel für ein Datum, das ebenso wichtig ist wie der Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, es war der Tag, an dem Terroristen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York gesteuert haben. Seitdem haben wir eine andere Welt. 9/11 wirkt nach. 2018 war das erste Jahr, in dem nach dem 11. September 2001 geborene Rekruten zu Einsätzen in den Irak und nach Afghanistan geschickt wurden. Ziemlich vergeblich, wie wir heute wissen.
Der Journalist Garrett M. Graff hat Jahre damit verbracht, über die geo- und sicherheitspolitischen Konsequenzen dieses Datums zu schreiben. Für »Und auf einmal diese Stille. Die Oral History des 11. September« hat er drei Jahre recherchiert und zwei Jahre mit der Oral-History-Spezialistin Jenny Pachucki zusammengearbeitet. Das Buch beruht auf mehr als 500 Zeitzeugenberichten, destilliert aus über 5.000: einfache Menschen, Mütter und Väter und Kinder, Feuerwehrleute, Polizisten, Politiker, Ärzte, Lehrer, Hausfrauen, Mütter, Stewardessen, Journalisten, CIA- und FBI-Agenten, Soldaten und Pfarrer. Das Buch will dokumentieren, wie dieser Tage erlebt wurde – in den eingestürzten Türmen, in New York und Umgebung, im Pentagon, im Kapitol, im Weißen Haus, in Bunkern und Flugsicherungszenten, in Schulen und Büros, im Cockpit von Kampfflugzeugen und in den Flugzeugen, die an diesem Tag zum Absturz gebracht wurden.
Die Lektüre ist heftig, die emotionale Energie gewaltig. Die Erzählweise ist demokratisch. Das ist klein und groß und vor allem anschaulich, ein Leseerlebnis, das unter die Haut geht. Sich einbrennt. (Auch das US-Hörbuch übrigens ist Gänsehaut.) Oral History mag ein wenig aus der Mode sein, veraltet ist sie nicht, sondern höchst effektiv. Zuletzt hat uns das die Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mit Büchern wie »Die letzten Zeugen – Kinder im Zweiten Weltkrieg«, »Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft«, »Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus« bewiesen. Nun also sozusagen Kempowskis »Echolot« aus New York, als Raum für Verzweiflung und Schmerz, Trauer und Schrecken und puren Terror. Unweigerlich summiert sich eine große Litanei des großen »Was Wenn?« Was, wenn Mohammed Atta nicht aufgefordert worden wäre, sich beim Boarding zu beeilen? Was, wenn jemand seinen Flug nicht bekommen oder für eine andere Stunde gebucht hätte? Was, wenn jemand nicht noch schnell sein Hemd gewechselt hätte? Was wäre aus Familien geworden, aus Karrieren, aus so vielen Leben? Stoff für Dutzende Romane steckt in diesem Buch. Der Originaltitel bezieht sich darauf, dass die Air Force One mit Präsident Bush an Bord an diesem Tag das einzige Flugzeug am Himmel war; die Maschine kreiste für Stunden über den USA. So schien es für die Sicherheit von Präsident Bush am besten. 2020 als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen, gibt es jetzt eine sogar preisgünstigere Sonderausgabe mit festem Einband.
Alf Mayer