»Gloria Mundi« von Robert Guédiguian

Das nennt man wohl einen Teufelskreis. Ein Kind wird geboren, in einer Familie in Marseille, genauer im prekären Post-Arbeiterviertel von Estaque, dessen Mitglieder sich im beständigen Kampf ums Überleben befinden, als Busfahrer, Reinigungskraft für die Kreuzfahrtschiffe, die hier Station machen, als Uber-Kurier, Verkäuferin oder mit einem Laden, in dem die Ärmsten noch den Rest ihrer spärlichen Habe zu Geld machen. »Toutcash« heißt dieser Laden, und das ist ein ebenso treffender wie furchtbarer Name.

In dieser Welt kann jede Störung zur Katastrophe werden. Ein Streik gegen die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen, erboste Taxifahrer, die ihrem unliebsamen Konkurrenten den Arm brechen, ein Ladendiebstahl, eine Polizeistreife, die den Wagenlenker beim Telefonieren erwischt. Und natürlich die Geburt eines Kindes, das den schönen Namen Gloria erhält. Und schwerlich vom Hervorscheinen einer besseren Welt erfasst werden kann. Denn rauskommen aus dieser Welt, in der man im individuellen Lebenskampf nicht mehr die Kraft zur Solidarität findet, scheint unmöglich.
Die Arbeiterklasse und ihre Organisationen gibt es hier nicht mehr, das neue Prekariat besteht nur noch aus isolierten und schutzlosen Individuen, denen die wenigen Gewinner immer wieder das höhnische »Selber schuld« entgegen halten, am Ende aber ist selbst die Familie, letzter Zufluchtsort und letzte Form des sozialen Zusammenhalts, nicht mehr in der Lage, die Katastrophe aufzufangen: Die Gewalt, die sich nach innen entlädt. Denn raus aus diesen Verhältnissen kommt nur, wer es auf Kosten anderer tut.
In diese Welt kehrt Daniel zurück, nach zwanzig Jahren im Gefängnis, weit weg im kalten Norden, wegen eines »dummen« Aktes der Freundschaft, in die Welt seiner Ex-Frau und ihres neuen Ehemannes, der Töchter und Schwiegersöhne, und am Ende wird er ins Gefängnis zurückkehren. Seit »Marius et Jeannette« (1997), wo Guédiguian das gleiche Milieu und mit Ariane Ascaride das gleiche weibliche Zentrum der Geschehnisse noch mit einer ironischen Heiterkeit beschreiben konnte, ist das Zerstörungswerk und der totale Sieg des Kapitalismus vorangeschritten.
An die Stelle von Ansätzen des solidarischen Miteinander ist der gnadenlose Kampf jedes gegen jeden getreten, an die Stelle von Widerstand das Opfer. Mit dem Schließen dieses Kreises durch das letzte Mittel, das einem Menschen in der Hölle des Neoliberalismus bleibt, erfüllt sich, was ebenso als bittere Farce hätte erzählt werden können, als Tragödie. In ihr erhalten die Menschen die Würde, die ihnen ihre Gesellschaft schon abgesprochen hat.
»Gloria Mundi« ist eine starke, dringliche und genaue Erzählung aus der Unterschicht von Marseille, die ganz für sich stehen kann und voller Beobachtungen am Rand ist, jede ein weiterer Beweis für die Unmenschlichkeit, an die wir uns bereits gewöhnt haben. Aber es ist zugleich auch Teil eines ›work in progress‹, eine Chronik von Zerfall und Verzweiflung, die gleich hinter den Glasfassaden der Konzernbauten und den Shopping Malls beginnen. Aneinander gereiht ergeben die Filme eine direkte und persönliche Geschichte vom Verschwinden der Hoffnung. Aber Gloria ist geboren, und ob sie eine Zukunft hat, entscheidet nicht das Kino, sondern das richtige Leben.
Robert Guédiguian ist nicht nur Autor und Regisseur dieses Filmes, sondern auch Zentrum eines ungemein produktiven künstlerischen Kollektivs, das sich immer wieder mit den verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Menschen in aller Welt auseinandersetzt. Der nächste Film, »Mali Twist« ist bereits fertig, eine afrikanische Ergänzung und Fortsetzung von »Gloria Mundi«, wo wir einmal an einer illegalen Zeltsiedlung Geflüchteter vorbei kommen, wie eine Erinnerung daran, dass es Menschen gibt, die noch brutaler behandelt werden als die billigen Arbeitskräfte, die jederzeit ersetzt werden können.
Einmal bekennt Daniel, dass er aus dem Gefängnis komme, toll, sagt ein Nordafrikaner, du als Franzose kommst wenigstens mal wieder raus. Rassismus und Faschismus gehören in »Gloria« zur Randwahrnehmung. Noch. Weitere Produktionen (nicht immer unter seiner Regie) sind von Guédiguians Kollektiv in Arbeit und Vorbereitung. Es wäre an der Zeit, diesem Filmemacher und seinen Mitstreitern eine umfassende Retrospektive zu widmen.

Georg Seeßlen (Foto: © Ex Nihilo 2019)

GLORIA MUNDI
von Robert Guédiguian, F/I 2019, 107 Min.
mit Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier, Robinson Stévenin, Lola Naymark
Drama
Start: 13.01.2022

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