Wem gehört die Geschichte Italiens? »La chimera« von Alice Rohrwacher

Es beginnt alles mit einer, nun ja, Heimkehr. Der Engländer Arthur kehrt in das Dorf zurück, in der er einer Bande von Grabräubern, die im Erdreich nach etruskischen Schätzen suchen, um sie einer kriminellen Kunsthändlerin zu verkaufen, mit seiner Gabe dient, »Leere zu erspüren«. Da ist die alte Matriarchin Flora, zauberhaft von Isabella Rossellini verkörpert, mit ihren zänkischen Töchtern und einer Schülerin oder doch Dienerin namens Italia. Eine der Töchter war Benjamina, die wahrscheinlich tot ist. Es sind schuldhafte Dinge geschehen, vor dieser halbfremden Heimkehr. Nach anfänglichem Widerwillen nimmt Arthur die Suche nach den Schätzen im Erdreich wieder auf. Man wird von Carabinieri verfolgt, von der Kunstverbrecherin mit Namen Spartaco betrogen (gespielt von der Schwester der Filmemacherin, Alba Rohrwacher), Flora soll ihr Haus verlassen, Arthur eine neue Geliebte finden, ein alter Bahnhof wird besetzt, und es wird auf einem Friedhof am Strand gesungen, bevor die Gier nach den verborgenen Schätzen wieder alles überschwemmt. Aber noch zwischen diesen Geschehnissen passiert so viel, manches davon bleibt rätselhaft und offen, dass man kaum mitkommt. Jede Einstellung hat drei Bedeutungen, mindestens.
Lange Zeit wähnen wir uns in vertrautem Rohrwacher-Terrain. Schließlich ist »La Chimera« der Abschluss einer Filmtrilogie, in der es um das Leben von prekären Familien- und Arbeitsverhältnissen in Etrurien geht, und ums Vertriebenwerden aus diesem harten Paradies der Kindheit. Die irdenen, gesättigten Farben, die vielen Assoziationen und Zitate, der Blick des Staunens, die kargen Landschaften, in denen man gerade so für das Überleben sorgen kann, und wo doch immer wieder eine unerwartete Lebensfreude durchbricht. Mit jeder Bewegung wechselt das Elend zur Magie und umgekehrt. Ein Kino, das mit sehr viel eigener Kunst das Erbe von Fellini, Pasolini und Visconti vermittelt. Und auch in »La chimera« gibt es ganz direkte Bezüge zum italienischen Mythen-Film; Rohrwacher scheut nicht einmal vor direkten Zitaten zurück. Doch nach etwa einer Stunde, als Arthurs Heimkehr schon eine Rückkehr in eine endlose Schleife von Alltag, Ritus und Traum scheint, da ändert Alice Rohrwacher den Ton ihres Filmes. Die Episoden werden autonomer, die Farbpalette wird vielfältiger, hier zum Verblassen, dort ins Grelle tendierend, die Verfremdungen werden drastischer, zwischen Slapstick und Surrealismus, Gesellschaftssatire und Mythen-Dekonstruktion scheint sich der Film ein wenig in seine Bestandteile aufzulösen, jedes für sich faszinierend, jedes aufgeladen mit Nebenbedeutungen und Hintergründen, doch entfernt von der poetischen Geschlossenheit der Vorgänger-Filme. Deutlicher als zuvor geht es auch um Geschlechterrollen und Politik, deutlicher als zuvor zielt der magische Realismus auch in die Welt von heute. Die Schauplätze werden vielfältiger, Arthur und seine Bande verlassen ihr angestammtes Terrain und statten Spartaco und ihren mondänen Kunst-Kunden einen Besuch auf einem Schweizer See ab. Der letzte große Fund ist ein Kopf, der einem weiblichen Körper fehlt. Die Zusammenführung zu einer ganzen Statue wird von Arthur verweigert; alles muss Fragment bleiben. Doch am Ende wird, Ariadne sei Dank, der rote Faden wieder gefunden. In der Unterwelt der versunkenen Welt der Etrusker, bei denen die Frauen das Sagen hatten, wo sonst?
Für manche Bewunderer von Alice Rohrwacher cineastischer Mytho-Poetik mag »La chimera« ein klein wenig enttäuschend sein. Es ist, als würde die Filmemacherin sich selbst und ihrem Publikum signalisieren, es sich nur nicht zu gemütlich im Rohrwacher-Terrain zu machen. So bricht sie ihr Erzählformat auf, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen, und der Film erscheint selbst eine Schimäre, eine Gestaltwandlung, ein Hybrid. Das »Land der Wunder«, wo man »Glücklich wie Lazarus« sein kann (um die Titel der beiden ersten Filme der Trilogie zu zitieren, die ironisch genug den Widerspruch zwischen der Härte und der Schönheit aufnehmen), es war immer im Zustand von Zerfall und Verlust gesehen. Wenn Arthur schließlich in der etruskischen Unterwelt sein verlorenes Glück und sein Ende findet, ist der Abschied vielleicht wirklich vollzogen. »La chimera« ist der erste international produzierte Film von Alice Rohrwacher. Es ist ein Film der Wandlung und der Wendung. Was dabei hilft, ist eine Beimengung von Humor und Selbstironie.
Eine poetische Landschaft mit ganz eigenen Menschen, aber auch eine Endzeitwelt; so viel Vergangenheit, so wenig Zukunft. Jeder Alice Rohrwacher-Film endet mit einem Abschied, so oder so. Die melancholische Schönheit ihrer Filme drohte, darüber hinweg zu täuschen, dass sie stets auch eine politische Haltung einnehmen. Hier nun steht nicht nur die politische Frage nach dem Besitz der Altertümer und ihrer finanziellen Werte, sondern auch die Frage nach dem Besitz der Vergangenheit im Raum. Wem gehört das Land? Und wem gehört die Kunst? Wem gehört die Geschichte? Diese Fragen sind, ebenso wie die nach der Geschlechterordnung, drängend aktuell im Italien der »Fratelli« und der »Lega«, die gerade dabei sind, die Geschichte des Landes nach ihrer propagandistischen Agenda umzuschreiben.
In der Welt der großen Vereinfachungen ist »La Chimera« eine Feier von Vielschichtigkeit, Reichtum der Bildsprachen und der Verwandlungskunst. Schon allein dafür muss man ihn einfach lieben. Und mit Spannung den nächsten Rohrwacher-Film erwarten, um zu erfahren, wohin die Reise dieser Künstlerin nun gehen wird.

Georg Seeßlen / Foto: © Piffl Medien
>> TRAILER
La chimera
von Alice Rohrwacher, I/F/CH 2023, 130 Min., mit Josh O`Connor, Carol Duarte, Vincenzo Nemolato, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet
Drama, Start: 11.04.2024

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