Woody Allen à la française »Ein Glücksfall« heißt sein neuer Film

Er zählt zu den produktivsten Regisseuren und Drehbuchautoren der Filmgeschichte und liebt es noch immer, das Kinopublikum zu überraschen. Sein 50. Film spielt nicht in New York, der Stadt, die er idealisiert hat wie kaum ein anderer, sondern in Paris und ist komplett auf Französisch gedreht, obwohl der Regisseur der Sprache nicht mächtig ist. Es ist nicht die einzige Überraschung in Woody Allens »Ein Glücksfall«.

Mit Schauplatz und Sprache hat der mittlerweile in Hollywood Geächtete auch die Dialoglastigkeit des französischen Kinos übernommen. So glaubt man zunächst, in einem Eric-Rohmer-Film zu sitzen. Denn vom Start an wird in jeder Szene geredet, und nicht nur das – es wird klar, dass die Protagonisten sich selbst etwas vormachen. Auch hierin ähnelt Allen dem französischen Meister.
Mit kinogeübtem Blick ist nämlich bald zu erkennen, dass Fanny (Lou de Laâge) und Jean (Melvil Poupaud) keineswegs ein ideales Paar sind. Man muss sich nur Fannys Mimik und Gestig anschauen, wenn sie mit ihrem Gatten Jean oder wenn sie mit ihrem alten New Yorker Bekannten Alain (Niels Schneider) zusammen ist. Am Anfang des Films begegnet sie Alain zufällig auf der Straße, und wie sie von den vergangenen Zeiten sprechen, das zeugt von einem Verständnis, das Fanny offenbar nicht in ihrer Ehe findet.
Alain ist ein Schriftsteller vor einer möglichen Karriere, ein gut gekleideter Bohemien, der in einer schmucken Dachwohnung lebt. Die Anziehungskraft, die er besitzt, vermisst die Kunstinteressierte bei ihrem reichen Ehemann . Der bietet ihr zwar ein sorgenfreies Leben, doch sie fühlt sich wie eine Trophäe, die der Geschäftsmann seinen Freunden vorweisen kann.
Fannys Mutter Camille (Valérie Lemercier) ist eine große Befürworterin der zweiten Ehe ihrer Tochter. Sie weiß Jeans Vorzüge zu schätzen und ist froh, dass ihre Tochter nach dem ersten Versuch mit einem Junkie einen seriösen, zuverlässigen Mann gefunden hat, der sie liebt. Und deshalb tut sie alles, ihrer unzufrieden werdenden Tochter gut zuzureden, während deren heimliche Verabredungen mit Alain immer häufiger werden. Es kommt zum Unvermeidlichen, und Jean wird so misstrauisch, dass er einen Detektiv engagiert.
Man hätte es ja ahnen können, ist aber dennoch überrascht, wenn der Film seine Tonlage von der romantischen zur kriminalistischen Komödie wechselt (und dabei weniger Dialog benötigt). Schließlich hat Allen bewiesen, dass er auch in diesem Fach zu Hause ist.
Spätestens bei diesem Übergang erkennt man die Besonderheit von »Coup de chance«, so der Originaltitel. Es ist eben nicht der französische Aufguss eines bekannten Allen-Films mit der gewohnten, klassischen Jazz-Musik, sondern ein Unikat – mit einer grandiosen, von Vittorio Storaro elegant geführten Kamera und Herbie Hancocks modernerem »Cantaloup Island« auf der Tonspur.
Als Alain verschwunden ist, klammert sich Fanny erneut an Jean, und ihre Mutter bekommt Zweifel. Allen erweist sich wieder einmal als großer Erzähler mit seiner ironisch-psychologischen Sicht des Lebens. Sein Publikum soll auch diesmal geläutert aus dem Kino kommen. Denn am Ende scheint er sich für die abgrundtiefe Bosheit seines Meisterwerks »Match Point« ein wenig zu entschuldigen.

Claus Wecker / Foto: © 2023 Gravier Productions Inc., Foto: Thierry Valletoux
>> TRAILER
Ein Glücksfall (Coup de chance)
von Woody Allen, F/USA/GB 2023, 93 Min.
mit Lou de Laâge, Valérie Lemercier, Melvil Poupaud, Niels Schneider, Guillaume de Tonquédec, Anna Laik, Venedig 2023
Tragikomödie
Start: 11.04.2024

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