Nein, die Polizei darf auf keinen Fall gerufen werden, als die Marquesa Alfonsina de Luna die Nachricht erhält, dass ihr Sohn Tancredi entführt worden ist. Kein Fremder, schon gar keine Amtsperson, darf in ihr Reich eindringen. Den Grund werden wir erst später erfahren.
Zunächst führt uns Regisseurin Alice Rohrwacher auf ein Landgut irgendwo in Italien. Die Menschen dort arbeiten den ganzen Tag auf den Feldern, auch die Kinder packen mit an. Ein junger Mann ist besonders eifrig. »Lazzaro«, schallt es aus dem Tabakfeld, wenn die Blätter herausgetragen werden sollen, und Lazzaro (Adriano Tardiolo) eilt klaglos mit einem Bündel nach dem anderen zum Wagen.
Am Abend sind wir bei einer Art Hochzeit zu Gast, ohne Priester oder Standesbeamten. Doch als das Paar in die Stadt ziehen will, heißt es, das müsse die Marquesa erlauben und niemals würde sie das tun.
Die Marquesa, mit wundervoll arroganter Pose von Nicoletta Braschi dargestellt, residiert, komfortabel in einer nahegelegenen Villa. Ihr Sohn Tancredi (Luc Chikovani) ist gerade gekommen, und schnell wird klar, dass sich der schlacksige junge Mann von seiner Mutter gegängelt fühlt. Doch an Hochmut scheint er die Frau Mama noch zu übertreffen.
Tancredi begegnet Lazzaro, der den Standesunterschied zwischen ihnen nicht zu bemerken scheint. Und nicht nur das, Lazzaro hilft dem jungen Adeligen sogar dabei, dessen Entführung vorzutäuschen. Lazzaro, dem Einfältigen, Unbedarften, wird seine Hilfsbereitschaft teuer zu stehen kommen, denken wir.
Doch es fliegt ein viel größerer Schwindel auf, ein Sozialbetrug in großem Ausmaß, der auch so oder so ähnlich in Italien vorgekommen ist. Es ist das Ende des ersten Teils.
Jetzt führt uns der Film aus einer vergangenen feudalen Welt hinein in die Gegenwart, in der einige der ehemaligen Landarbeiter neben Eisenbahngleisen am Stadtrand hausen. Aus den Leibeigenen der Maquesa sind Randexistenzen der Gesellschaft geworden, die sich mit List und Mühe durchschlagen. Antonia, die von der Regisseurin selbst gespielt wird, erkennt Lazzaro wieder, als sie auf ihn trifft. Er ist der von den Toten Auferstandene, den sie unter ihre Fittiche nimmt und wie einen Heiligen verehrt. Fortan wird er ihr und den anderen Verarmten in ihrem bizarren Existenzkampf zur Seite stehen.
Alice Rohrwacher ist ein wunderbarer Film gelungen, ein Film, der die Tradition des italienischen Neorealismus traumwandlerisch fortsetzt. Und wie leichthändig sie alles erzählt hat! Mit einer Gestalt, die an Pasolinis Filme erinnert und ein wenig auch an Luis Buñuels »Nazarin«, allerdings ohne dessen ketzerischen Nebentöne. Mit dieser Figur transformiert Rohrwacher die Darstellung einer gesellschaftlichen Entwicklung in ein Märchen, das von der Magie der Menschlichkeit handelt, dabei nichts beschönigt und uns schließlich verzaubert aus dem Kino entlässt.