Der kleine Pumuckl in der großen Politik
Ein Kobold, eben so frech wie witzig, ebenso gebildet wie rhetorisch versiert, ein Politiker aus Leidenschaft, der sich seine Unabhängigkeit bewahrt hat. Ein kluger Kopf, ein brillanter Redner. Bei seinen Auftritten im Bundestag haben sogar die Minister ihre Handys und Akten auf die Regierungsbank gelegt um ihm, oft allerdings ehrlich empört, zuzuhören. Gregor Gysi ist eine Ausnahmeerscheinung in unserer Politik. Er war und blieb, trotz seiner parteipolitischen Bindung, ein unabhängiger Kopf. Und er ist dazu ein guter Erzähler.
Gleich eingangs behauptet Gysi: »Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ›Ich‹ beginnen soll.« Dann legt er los: »Ich kann von meinem Leben nicht behaupten, es verlaufe ruhig.« Das kann der Leser nach 583 Seiten nur bestätigen.
Gysi und seine zwei Jahre ältere Schwester sind in einem quasi ›aristokratischen‹ Haushalt des Arbeiter- und Bauern-Staates aufgewachsen. Sie stammen aus einer Familie von Ärzten, Bankern, Industriellen, baltischem und russischem Adel. Seine Mutter studierte Volkswirtschaft und wird Verlegerin. Der Vater, erst Mitbegründer des Ost-Berliner Aufbau-Verlags, wird später Kulturminister der DDR. Als der Junge zehn ist, trennen sich die Eltern. Neben der von ihm ungeliebten Schule musste er auch eine Berufsausbildung absolvieren. Als er sich endlich dazu angemeldet hatte, war nur noch der »Facharbeiter für Rinderzucht« frei. Die damals erworbene Qualifikation dürfte ihm später einiges geholfen haben (er hat sicherlich jeden Ochsen auf Anhieb erkannt). Gysi bemerkte an sich eine gewisse »Grundfaulheit«. Er meint, das habe zu tun mit der »politischen Kultur in der DDR: langweilige Reden, eine zunehmend unbegreifliche Wirklichkeitsverleugnung, kein Gefühl für Massenpsychologie, zu wenig tiefere Gedanken.« Mit nur dreiundzwanzig Jahren ist Gysi der jüngste Rechtsanwalt der DDR. Er will nicht Richter oder Staatsanwalt werden, um »beruflich möglichst nischennahe Wege einzuschlagen und dem Staatsapparat auszuweichen«. Er vertritt bekannte Systemkritiker wie Rudolf Bahro, Robert Havemann und Bärbel Bohley. Mit Anfang zwanzig ist er, wie damals üblich in der DDR, bereits verheiratet, hat einen Sohn, den er nach der Trennung von seiner Frau alleine aufzieht.
Gysi erlebt den Fall der Mauer auf seine Weise. »Es lag Mehltau über dem Land (…) Sturz, das war das Wort der Stunde: Bestürzung, Kassensturz, Absturz, Einsturz, Umsturz.« Und in all diesen Stürzen kam es zu einem grandiosen Aufstieg. Der immer auch aufmüpfige Parteigenosse Gysi wurde nach der Wende zum Ersten Vorsitzenden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED). Gerne liest man noch einmal die ausführliche Schilderung der versehentlichen Maueröffnung. Günther Schabowski, ersichtlich überfordert, erklärt vor der Internationalen Presse die generelle Erlaubnis für alle DDR-Bürger auszureisen. Auf die Nachfrage, »ab wann«, stottert er unsicher »ab sofort«. Ein Augenblick der Weltgeschichte.
Die Rechtsanwälte der DDR, die gerade den Entwurf für ein Reisegesetz erarbeitet hatten, wurden »von der Zeit überholt«.
Gysi beschreibt diese Vorgänge oft witzig und voller Selbstironie, aus der Sicht des Beteiligten. Im SPIEGEL wurde er als »Drahtzieher« bezeichnet. Leipziger Demonstranten riefen ihm höhnisch zu, in Anspielung auf seine geringe Körpergröße (163 cm): »Lügen haben kurze Beine – Gysi zeig uns doch mal deine.«
Gysi bemüht sich erkennbar um eine ausgewogene Darstellung. Sie gelingt ihm nicht immer.
Seine Kritik an der »Abwicklung« ist allerdings gut nachzuvollziehen. Gysi kämpft unermüdlich gegen die Pannen, Fehler und Ungerechtigkeiten. Er zahlt dafür mit seiner Gesundheit (ein Aneurysma, mehrere Herzinfarkte).
2004 tritt er von allen Ämtern zurück, nur um ein halbes Jahr später wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. 2015 tritt er dann aber endgültig ab. »Du sagst Menschen, die außerhalb deiner Funktionen Interesse an Dir haben, immer wieder ab – bis sie dich abschreiben.«
Gysi hat ein pralles, ereignisreiches Leben hinter sich. Er ist ein Kobold geblieben, gerade siebzig geworden, und deshalb »wild entschlossen, das Alter zu genießen«. Er will »politisch wahrnehmbar« bleiben. Sein Buch endet mit dem Rat: »Ältere Menschen warne ich gerne davor, sich nur noch über Krankheiten zu unterhalten. Denn die Folge dessen besteht – weiß Gott – nicht darin, dass man gesünder wird.«