Schauspiel Frankfurt zeigt »Kleiner Mann – was nun?«
Eine gefühlte Viertelstunde der zugemuteten Ambivalenz gleich zu Beginn: Lämmchen (Henrike Johanna Jörissen) steht da, ist alleine im bildhaften Rahmen der gigantischen kahlen Bühne (Olaf Altmann), die noch viel größer scheint als sonst. Lämmchen schweigt, wirkt in ihrem schäbigen Mäntelchen wie ausgestellt, wie dahingeworfen. Sie spielt das Publikum wortlos an, macht uns zu Gaffern, und man kommt nicht umhin, zu denken: Kleine Frau – was nun?
Sitzt man vorne, beziehungsweise mit dem für Thalheimer-Inszenierungen häufig notwendigen Feldstecher tiefer im Saal, läßt sich Großes erkennen: Denn dieses Lämmchen nimmt in einer den Atem raubenden Mimik bereits alles vorweg, scheint schon alles zu wissen, was Hans Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« – die zu Herzen gehende Liebesgeschichte von Emma (genannt Lämmchen) und Johannes (genannt Pinneberg) in den finstersten Tagen der sterbenden Weimarer Republik – meisterlich nüchtern und ergreifend aufbereitet hat. Lämmchens Blick changiert zwischen der Hoffnungslosigkeit des gesellschaftlichen Existenzkampfes, der Angst vor Arbeitslosigkeit, der Strahlkraft des gefundenen privaten Glücks, der Sorge um das noch nicht geborene Kind (genannt Murkel) und den Herausforderungen eines gnadenlosen Alltags in schwierigen Zeiten. Sie schaut und schweigt und erzählt doch alles. Groß.
Michael Thalheimer hat wieder beherzt zugegriffen. So, wie man‘s von ihm kennt, wird Falladas 1932 verfaßter Roman eingekocht, gestrichen und extrahiert. Dabei greift er zu den mittlerweile auch in Frankfurt bekannten Mitteln: der nahezu leeren Bühne, scharf konturierten aussagekräftigen Schatten, einem Chor und einer Art Softshell-Morricone in der Dauerschleife, was manche an anno 2003 und seine Frankfurter »Warum läuft Herr R. Amok?«-Inszenierung erinnern dürfte.
Das »Prinzip Thalheimer«, Stücke so zu verkürzen, daß ihr innerster Kern bloßgelegt zutage tritt, hat den Frankfurtern große Theatermomente beschert. Diesmal allerdings verpuppt der Regisseur die eigenen Schauspieler und deren Möglichkeiten. Wie Marionetten bleiben Stefanie Eidt (als nuttige Mutter), Michael Benthin (als alerter Lebemann), Andreas Uhse (als überreizte Witwe) und sechs weitere hochkarätige Kollegen meist statisch im arenahaft erhöhten dunklen Hintergrund, kommen nur zu karikaturesken Kurzauftritten herunter ins Licht. Oben im Halb-Off sprechen sie Rollen, mahnen, beschwören (»Nur nicht arbeitslos werden«), kommentieren und peitschen im Chor Dramatik ein. Der Verbleib auf der Hinterbank wirkt wie ein Platzverweis und ein nicht eben glücklicher Versuch, Falladas Kleinen Mann in das Korsett der attischen Tragödie zu zwängen.
Grandios aber ist das Dauerspiel der Protagonisten Lämmchen und Pinneberg, den Nico Holonics gibt. Jörissen und ihr Partner spielen sich die Seele aus dem Leib und in einigen Momenten in die Herzen hinein, sie sind großartig. Holonics wächst als Verkäufer von Herrenbekleidung über sich hinaus, er spielt Pinneberg und viele andere, kämpft mit sich und für seine kleine Familie – und scheint uns so noch mehr allein. Da wird Verzweiflung und Angst spürbar, der kleine Mann geht einem ganz nahe. Zum Schluß ist das Pärchen nur noch ein Schatten seiner selbst, Pinneberg hat eine Pistole in der Hand und Lämmchen an der Seite. Licht geht aus, Lebbe geht weiter?