Hanne Orstaviks »Liebe«

Zur Mutter ungeeignet

Ein großes Buch aus einem kleinen Verlag. Durch einen glücklichen Zufall fiel es mir in die Hände. Toll geschrieben, kompromisslos, sensibel, mit garantierter Tiefenwirkung. Die junge norwegische Autorin Hanne Orstavik, bereits oft ausgezeichnet, zählt zu den bekanntesten Schriftstellerinnen ihres Landes. Ihr neuer Roman »Liebe« wurde bereits in elf Sprachen übersetzt.

Der achtjährige Jon, am nächsten Tag wird er neun, sitzt auf seinem Bett, schaut durchs Fenster auf den meterhohen Schnee rechts und links der Straße und wartet darauf, dass seine Mutter Vibeke aus dem Büro nach Hause kommt. Beide sind erst vor kurzem in die kleine Stadt gezogen. Vibeke hat hier einen Job als Kulturbeauftragte bekommen. Beide leben alleine. Hin und wieder kommt ein Mann dazu, nie für längere Zeit. Schon als Kleinkind wurde Jon häufig allein gelassen. Die Mutter versuchte ihm früh beizubringen, dass man sich »gegen Angst entscheiden kann«.  Vibeke, um die 30, ist von ihrem Leben als ledige Mutter überfordert. Sie sehnt sich nach einem Mann, der »sie ein Stück weit empor tragen und schweben lassen kann.« Sie ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass für ihren Sohn kaum mehr Platz bleibt. Der kleine Jon flüchtet sich in Tagträume. Zum Geburtstag wünscht sich er sehnlichst eine Märklin Lokomotive. Er wäre dann der Lokführer, auf dem Bahnsteig stünde »seine Mutter, er hält an und nimmt sie mit«.
Nach dem gemeinsamen Abendessen geht er in sein Zimmer zurück. Doch dann fällt ihm ein, dass er Lose von seinem Sportverein bekommen hat. Wenn er sie verkauft, kann er etwas Geld verdienen. Er geht, ohne sich zu verabschieden, und redet sich  ein, dass seine Mutter dann ungestört seinen Geburtstagskuchen backen kann. Als er wieder nach Hause kommt, er war noch bei einer Klassenkameradin gewesen, sind Mutter und Auto weg. Die Tür ist verschlossen. Er war ohne Schlüssel losgezogen.
Vibeke, eine leidenschaftliche Leserin, wollte sich noch ein Buch aus der Bücherei holen. Sie glaubte, ihr Sohn schlafe. Im Ort ist für ein paar Tage Jahrmarkt. Sie parkt ihr Auto und begegnet einem Mann, der ein Karussell betreibt. Die beiden kommen ins Gespräch. In ihrer grenzenlosen Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit, meint sie zu spüren, »dass etwas zwischen ihnen passiert ist. Es fühlt sich an, wie wenn ein Boot vom Ufer abgestoßen wird, jener Augenblick, in dem das Boot vom Sand gleitet und leicht wird, ganz leicht im Wasser schwebt.«
Der Mann und sie fahren in ein Lokal. Er sitzt schweigend neben ihr. Sie hofft allerdings, sie könne ihm  »ein wenig auf die Sprünge helfen«, denn »sie hat so viel zu geben«. Sie trinken ein paar Bier, er bringt sie nach Hause, ihr Auto lässt sie am Jahrmarkt stehen. Als er sich verabschiedet, möchte sie wissen, »was passiert nun im zweiten Kapitel?« »Du weißt genau so gut wie ich, dass es keine Fortsetzung von etwas geben kann, das nie begonnen hat.« Enttäuscht legt sich Vibeke ins Bett. Nach dem Jungen schaut sie nicht mehr.
Und hier nimmt nun das Schicksal seinen Lauf. Egal, wie man es nennen mag, Zufall, Fehldeutung, Missverständnis, die Geschichte läuft auf ein ungutes Ende zu.
Die Mutter, vor allem mit sich selbst beschäftigt, zwingt dadurch ihren Sohn, viel zu früh, wenn nicht erwachsen, so doch selbständig zu werden, was der kleine Kerl ebenfalls kaum leisten kann. Zwei Menschen, die zusammen gehören, aber nicht zueinander finden. Diese Konstellation ist tragisch, ein Ausweg nicht zu sehen. Hanne Orstavik verschränkt die beiden Erzählstränge, Mutter und Sohn. Die Simultanität des Geschehens verstärkt die Dramatik. Sie macht nicht viele Worte, reißt aber Welten auf. Am Ende denkt Jon daran, dass er jetzt schon neun ist. Und seine Mutter immer noch unterwegs. Er legt sich vor die Haustür, »nimmt seine gewohnte Schlafposition ein« und »wartet hier auf sie«.

Sigrid Lüdke-Haertel (Foto: © Linde B. Engelberth)

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