Kein Wunder, dass einer wie Hans Haacke schon ganz früh von der Cancel Culture entdeckt wurde. Und das ausgerechnet in seiner Wahlheimat New York. Doch als er dort im Guggenheim Museum Fototafeln von 142 Hausfassaden inklusive Stadtplan, Katasterplan und U-Fahrplan ausstellen wollte, um die Verflechtungen der Shapolsky Real Estate vor dem staunenden Publikum auszubreiten, die in der Lower East Side das halbe Viertel aufgekauft hatte – damals halber Slum, heute unbezahlbar – da zog das Museum nicht mehr mit. Dagegen waren Louise Bourgois‘ Penis-Skulpturen vermutlich kleine Fische. Die Ausstellung fand nicht statt.
Ebenso wenig eine andere. Édouard Manets »Spargebündel« war von Charles Ephrussi aus Odessa – diese Familie ist uns bestens bekannt aus »Der Hase mit den Bernsteinaugen« – für 800 Francs im Jahr 1880 erworben worden, Ephrussi zahlte 1.000 Francs und bekam als Dankeschön einen einzelnen Spargel nachgemalt, der habe noch im Bündel gefehlt … Dieses Stillleben wurde später von dem berühmten jüdischen Maler Max Liebermann von Paul Cassirer erworben, wies dann weitere jüdische Vorbesitzer auf, um dann, ja man weiß nicht ganz genau wie, 1968 bei dem Vorstand der Deutschen Bank Hans Hermann Abs aufzutauchen. Hans Haacke, hat, so wie es seine Art ist, Provenienzforschung betrieben, als man das Wort noch gar nicht in den Mund nahm, und siehe da, da klafft eine zeitliche Lücke. Diese Dokumentation sollte im Jahr 1974 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu sehen sein, in dessen Vorstand Hans Hermann Abs damals saß, zusammen mit einer Reproduktion des Gemäldes und den Besitzurkunden, doch das war dem Wallraf-Richartz-Museum dann doch nicht so recht. Hans Haacke wurde nicht in den heiligen Hallen ausgestellt, dafür aber in der gegenüber.
Cancel Culture, Provenienzforschung, da war er einer der ersten. Und diesem Kölner Künstler mit deutsch-amerikanischer Staatsbürgerschaft hat die Schirn nun eine umfassende, so kluge wie nötige Retrospektive gewidmet. Einen investigativen Künstler nennt ihn die Kuratorin Ingrid Pfeiffer, er betreibe angewandte Systemtheorie, sagt Schirn-Leiter Sebastian Baden. Und »alles« stimmt auch: Es gibt keine Materialien, vor denen er zurückschreckt, Plastikfolie, Chiffon, Schläuche, Wasser, Eis, Nebel, Plexiglas. Bevor man die Schirn überhaupt betritt, hat er mit seinem »Gift Horse« in der Rotunde schon überaus eindrucksvoll sein Zeichen gesetzt: ein bronzenes Pferdeskelett steht da, zu dessen Hufen Börsenkurse in Echtzeit über ein elektronisches Band laufen. Es wurde 2015 auf dem Londoner Trafalgar Square aufgebaut. Die Skulptur in durchaus imposanter Größe karikiert die angemaßte Machtdemonstration von imperialen Reiterstandbildern – in diesem Fall ist das Ross halt ein Skelett.
Eine ganz frühe Arbeit von ihm, wieder- entdeckt im Archiv der documenta, gibt eine ganz wunderbare Einführung in sein künstlerisches Gespür, in seinen künstlerischen Impuls: »Fotonotizen« heißt sie, und sie zeigt auf einer ganzen Reihe von Schwarzweißfotografien Besucher*innen der documenta 2 im Jahr 1959. Wie sie da verunsichert vor einer Skulptur sitzen, ein fein gemachtes älteres Ehepaar resigniert vom eigenen Mut mit einem Prospekt in der Hand, Burschenschaftler in voller Montur vor einem Gemälde von Kandinsky, Publikum, bereit, sich auf etwas Neues einzulassen, sich darin aber noch gar nicht zurecht zu finden, diese gesellschaftliche Friktion, dafür hat Haacke eine ganz feine Sensorik. Und dieses Publikum möchte er gewinnen, er möchte, dass Kunst als ein Weg in die Demokratie verstanden und beschritten wird.
Für ihn, und das ist bei jedem Objekt, bei jeder Installation klar, geht es um den gesellschaftspolitischen Auftrag der Kunst. Ähnlich sieht es auch Gustav Metzger, den das MMK gerade ausstellt. Wozu braucht man Kunst, wenn sie nicht Veränderungen einleiten will? Um sie als Kauf-Fetisch ins Wohnzimmer zu hängen etwa? Vor dem Künstler Hans Haacke ist nichts sicher: nicht der Strand von Carboneras im Süden Spaniens, wo er aufgefundenen Müll zu einer Pyramide formt, nicht eine Rheinwasseraufbereitungsanlage, die er als Installation zeigt, mit Goldfischen und Fläschchen mit den Abwasserproben inklusive. Seiner Arbeit am Objekt geht stets eine intensive Erforschung voraus, und diese zu dokumentieren ist ebenso substanziell wie das Kunstwerk selbst, ja, ist ein Teil davon. Also kein Wunder, dass Hans Haacke eine große Impulskraft ausstrahlt.
Es folgen noch weitere herrliche Enthüllungen, und glauben Sie mir, wenn sie die gesehen haben, kaufen sie keine Schuhe bei Bally mehr und auch Schokolade schmeckt plötzlich viel bitterer.
Einen ausdrucksvollen Schluss-punkt setzt die Ausstellung mit dokumentarischen Fotos und weiterem Material zur »grünen« Installation im Lichthof des Reichstagsgebäudes aus dem Jahr 2008. Jede Parlamentarierin, jeder Parlamentarier wurde aufgefordert, einen Zentner Erde aus ihrem/seinen Wahlkreis mitzubringen, um damit eine Grünfläche entstehen zu lassen, die sich um den Schriftzug »Der Bevölkerung« schließt. Er entwickelte damit den von Peter Behrens im Jahr1916 entworfenen Schriftzug »Dem deutschen Volke« weiter, das am Bundestag prangt, er lässt es grünen und sprießen und florieren.
Zwölf Jahre übrigens wurde Hans Haacke nach seinem Guggenheim-Eklat nicht mehr in den USA ausgestellt, obwohl ihm im Guggenheim 1971 als erstem Deutschen dort eine Einzelausstellung gewidmet wurde. Er liebt seine Wahlheimat, das offenbart ein anekdotisch-liebenswürdiger Porträtfilm, der ihn in Brooklyn, in Brighton Beach und in Coney Island zeigt. Politische Unerschrockenheit verbunden mit Phantasie und forschender Akribie – zeitgemäßer und drängender kann eine Ausstellung nicht sein, auch wenn sein Hauptdarsteller (der er nie sein will) stolze 88 Jahre zählt. Vielleicht gerade darum.