…über diese Dame, die es tatsächlich gegeben hat. Elsa von Freytag-Loringhoven. Sie bewegte sich Anfang des letzten Jahrhunderts im Umkreis der dadaistischen Bewegung. Welche Rolle sie dabei tatsächlich spielte, lässt sich kaum mehr einschätzen. Bürgerlich geboren, bürgerlich aufgewachsen, flippte sie bald schon aus, heiratete mehrfach, schließlich in New York einen Herrn von Freytag-Loringhoven und starb 1927 in Paris an einer Gasvergiftung. Unfall oder Selbstmord? – das wurde nie geklärt. Unklar bleibt auch, ob sie Marcel Duchamp tatsächlich motiviert hat, das Klobecken zu einem Kunstwerk zu deklarieren. Der Baroness ist vieles zuzutrauen. Eben auch, dass sie jetzt, als wäre es völlig normal, in unserer Gegenwart, noch dazu in Oberhessen, wieder auftaucht und deshalb die Hauptrolle in diesem phantasievollen, gar nicht (sur)realistischen Roman spielt.
Es geht schon ein bisschen turbulent zu. Das halbe Dorf ist in die Handlung einbezogen. Alte Schulfreunde, einstige Bettgenossen, Nachbarn und Verwandte. Da und dort knistert es etwas. Die Vergangenheit lebt wieder auf. Die Menschen sind älter geworden. Aber die Alten sind tot. Nur Erinnerungen werden lebendig.
Antonia Baumann, Toni genannt, eine Restauratorin, ist jetzt Mitte vierzig und lebt mit ihrem französischen Ehemann und dazu mit einem riesigen Hund, der nicht von ungefähr meistens für einen Wolf gehalten wird, in einem kleinen Ort in der Bretagne. Sie hatte sich vor zwanzig Jahren, gleich nach dem Tod ihrer Großmutter, auf den Weg gemacht. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, war immer schon miserabel gewesen. Sie verließ das Dorf in Oberhessen, ging nach Frankreich, heiratete dort, und kehrte jetzt, nach dem Tod der Mutter, zum ersten Mal wieder nach Lindbach zurück, um ihre Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Sie trifft naturgemäß auf viele der Gestalten, mit denen sie, in der einen oder anderen Weise, in ihrer Jugend zu tun gehabt hatte. Und – als wäre es das Normalste der Welt – trifft sie auf diese nahezu ein ganzes Jahrhundert tote Dadaistin, die sich, zwar als ziemlich alte, aber quicklebendige Frau präsentiert und in dem folgenden Geschehen richtig kräftig mitmischt. Diese Baroness, von Lebensspuren gezeichnet, extravagant in jeder Hinsicht, eine gelungene Mischung von Kanarienvogel und Indianerhäuptling, hatte sich mit Tonis Mutter Emma zusammengetan, und lebte nun noch immer in deren Haus. Emma war mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker schon seit einiger Zeit ›trocken‹ und hatte sich künstlerisch erstaunlich entwickelt. Sie hat auch einige beachtliche Gemälde hinterlassen. Elsa, die Baroness, präsentiert Toni dieses Erbe und führt sie behutsam in die Rätselhaftigkeit dieser Bilder ein. Beide, Mutter und Großmutter, hießen Emma und wurden deshalb I und II genannt. Beide hatten ihre Tochter unehelich zur Welt gebracht. Und Toni, plötzlich auf die eigene Vergangenheit zurückgeworfen, hatte ersichtlich Probleme damit. Ihre Kindheit empfand sie als »unglücklich, miserabel, bedauerlich«. Großgezogen wurde sie von der Großmutter Emma, dem einzigen Menschen, der für sie »unentbehrlich gewesen war«.
»Ich hatte keine Lust auf diesen Tag, keine Lust auf das Dorf und am allerwenigsten Lust hatte ich, mich um dieses marode, von allen guten Geistern verlassene Haus zu kümmern.«
Aber da ist eben Elsa, dieser seltsame Paradiesvogel, immer hilfreich zur Stelle. Sie erzählt, ebenso ausführlich wie verworren, ihre eigene Lebensgeschichte: eine Künstlerbiographie, die durchaus an Else Lasker-Schülers steinigem Lebensweg erinnert. Elsa von Freytag-Loringhoven, jetzt etwa neunzigjährig und meist von einem lackschwarzen italienischen Windspiel begleitet, spielt also Haupt- und Titelrolle in diesem ebenso seriösen wie kuriosen Roman. Sie dirigiert das Geschehen und deutet es zugleich. 1874 in Swinemünde geboren, 1927 in Paris gestorben, lebt sie in einem völlig gegenwärtigen Lindbach. Und zeigt uns, wer es nicht glaubt, ist selber schuld, wie in einem oberhessischen Dorf auch Wunder völlig natürlich erscheinen können.
Veronika Peters präsentiert also eine ebenso interessante wie faszinierende Biographie. Eine »Königin der Selbstinszenierung«. Die Lebensgeschichte einer tatsächlich unsterblichen Frau.