»Ich wünsche dir ein schönes Leben« von Ounie Lecomte

Mit den besten Absichten

Eine Frage bewegt Menschen, die erfahren, dass sie adoptiert worden sind: Wer ist meine Mutter, wer ist mein Vater, und warum haben sie mich nicht aufgezogen? Wenn sie noch leben, wenn die Mutter damals ihr Neugeborenes zur Adoption freigegeben hat, ist damit für das betroffene Kind eine große Kränkung verbunden, die es ein ganzes Leben begleiten kann. Mit dieser Kränkung haben sich die koreanische Regisseurin Ounie Lecomte, die selbst adoptiert wurde, und ihre Co-Drehbuchautorin Agnès de Sacy in ihrem feinfühligen Drama auseinandergesetzt.

Die Physiotherapeutin Elisa, die Hauptfigur in dem Film »Ich wünsche dir ein schönes Leben« (etwas frei nach dem Originaltitel »Je vous souhaite d‘être follement aimée«), zieht mit ihrem 10-jährigen Sohn Noah nach Dünkirchen, wo sie aufgewachsen ist und ihre leibliche Mutter vermutet, deren Namen die örtlichen Behörden beharrlich verschweigen. Elisa ist von dem Wunsch, die Frau zu kennenzulernen, die sie geboren hat, geradezu besessen.
Alex, ihren Ehemann und Noahs Vater, hat sie in Paris zurückgelassen. Er versucht rücksichtsvoll, eine endgültige Trennung abzuwenden. Doch Elisa wehrt ihn ab, schwankt in ihren Gefühlen. Auf einer Autofahrt mit ihrem Sohn verpasst sie beinahe die Ausfahrt nach Paris, wo beide Alex überraschen wollen.
Es gibt noch ein weiteres Problem, das Elisa beschäftigt: Sie erwartet ein zweites Kind. Alex weiß nichts davon, wohl auch, weil Elisa sich nicht schlüssig ist, ob sie das Kind zur Welt bringen soll oder nicht. Die Zeit drängt, da sie bereits in der zwölften Woche schwanger ist und zwei Kinder alleine aufzuziehen sie wohl vollends überfordern würde.
Parallel dazu erzählt der Film die Geschichte von Annette, eben jener leiblichen Mutter von Elisa. Sie arbeitet als Kantinen- und Putzhilfe in der örtlichen Schule, die auch der kleine Noah besucht, wohnt mit ihrer Mutter im selben Haus und kümmert sich in ihrer Freizeit um die Hunde in einem Tierheim. Die Hund scheinen ein Ersatz für eigene Kinder zu sein, das deutet der Film zumindest an.
Annette sucht mit Beschwerden Elisa in deren physiotherpeutischen Praxis auf, und die Frauen kommen sich näher, ohne von der zwischen ihnen bestehenden Verbindung zu wissen. Mit einer unerhörten Intensität schildert der Film, wie sich die die scheu, etwas verklemmt wirkende Annette und die unterkühlt freundliche Elisa begegnen. Ob ihr der körperliche Kontakt mit ihren Patienten manchmal auch unangenehm werde, fragt Annette einmal – oder, ob Noah von Elisa adoptiert worden sei. Der Kleine hat ein arabisch anmutendes Äußeres, weshalb er in der Schulkantine auch keine Bratwurst bekommt. Nachdem ihr die Frage herausgerutscht ist, entschuldigt sich Annette sogleich, weil Elisa gekränkt reagiert. Später wird sich herausstellen, dass sich bei Noah die Gene seines Großvaters durchgesetzt haben.
Wie kunstvoll die Geschichten der beiden Frauen ineinander verschränkt sind, erkennt man vermutlich erst beim wiederholten Sehen. Denn dieses Melodram ist so beiläufig und frei von stilistischen Zuspitzungen erzählt, dass einem erst im Nachhinein, beim Verfassen einer Kritik beispielsweise, die Themenvielfalt in diesem Filmauffällt. Auch die Metaphern wie etwa einige bewusst unscharfe Kameraeinstellungen oder die Scheibenwischer im Regen sind vergleichsweise unauffällig eingesetzt.
Getragen wird der Film vor allem durch die überragenden Darsteller. Céline Sallette spielt, nein, ist eine hochgradig sensible Elisa, die mit ihrem Gesicht ein ganzes Arsenal von Gefühlen ausdrücken kann. Auch Anne Benoît zeigt als Annette von enttäuscht bis freudig erstaunt, von mitfühlend bis resolut ein weites Spektrum von Gefühlsregungen. Der kleine Elyes Aguis spielt nach »Le passé« nun zum zweiten Mal einen eigensinnigen Jungen. Mit diesem Film und dessen Regisseur Asghar Farhadi verbindet die Filmemacherin Ounie Lecomte aber nicht nur die Figur des kleinen Noah, sondern auch die Frage nach der persönlichen Schuld der Erwachsenen. Beide Autoren erzählen in ihren Filmen, wie man nicht aus Bosheit, sondern mit den besten Absichten schuldig werden kann. Alle Figuren haben nachvollziehbare Motive.
Irgendwann muss es der Regisseurin aufgegangen sein, dass die Männer in »Ich wünsche dir ein schönes Leben« als gewichtige (Mit-)Verursacher der Probleme eine Stimme haben sollten. Deshalb hat sie den sehr poetischen Kommentar eines Vaters – des Vaters von Elisa (?) – an das Ende gesetzt. Der Brief an seine ihm unbekannte 16-jährige Tochter wirkt zunächst etwas befremdlich. Aber auch hier hilft ein zweites Ansehen und Anhören des aus dem Off vorgelesenen Textes. Da kann man erkennen, dass Ounie Lecomtes Film ein Juwel ist, das man immer wieder betrachten kann.

Claus Wecker
ICH WÜNSCHE DIR EIN SCHÖNES LEBEN (Je vous souhaite d‘être follement aimée)
von Ounie Lecomte, F 2015, 100 Min.
mit Céline Sallette, Anne Benoit, Elyes Aguis, Françoise Lebrun, Louis-Do de Lencquesaing, Pascal Elso
Drama
Start: 15.06.2017

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