Im nächsten Jahr wird Francis Scott Fitzgeralds Roman »Der große Gatsby« 100 Jahre alt. Auf gerademal 160 Seiten porträtiert der Autor die sich selbst genügende dekadente Welt der Schönen und Reichen in den Roaring Twenties von New York. Sie leben vor sich hin und kümmern sich um nichts. Und sie kennen nur einen Unterschied: den der wirklich Reichen zu den Emporkömmlingen.
Vor dieser Lücke, diesem gap, spielt Fitzgeralds Geschichte über den auf undurchsichtige Weise zu viel Geld gekommenen Jay Gatsby. Einen Mann, der wie aus dem Nichts kommend sich alles leisten kann und sich auch alles leistet, mit seinem zur Schau gestellten Prunk aber nur ein Ziel verfolgt: seine Jugendliebe Daisy aus Louisville wieder für sich zu gewinnen. Diese hatte sich an einer frühen Weggabelung des Lebens gegen den in den 1. Weltkrieg gezogenen Soldaten entschieden und ihm einen Mann vorgezogen, dem Reichtum selbstverständlich ist: die Sportskanone Tom Buchanan.
Nun, fünf Jahre später, plustert sich der Aufsteiger Gatsby wie ein Pfau vor Daisy auf, um zu erfahren, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch der Liebe Grenzen gesetzt sind. In einer obskuren Folge von Zufällen lässt Fitzgerald seinen am amerikanischen Traum zerbrechenden Protagonisten als tragisches Opfer einer Intrige enden.
All das erzählt auch die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak in der Inszenierung von Iga Ganczarczyks Bühnenfassung, unterlegt ihrem Spiel aber eine neue Lesart, indem sie den Fokus auf zwei Figuren richtet, die es im Roman so nicht gibt: das Mädchen und der Bursche. Gespielt von Nina Wolf und Stefan Graf, stehen die beiden für all die Bediensteten, die den Popanz der Happy few erst real werden lassen, indem sie Schnittchen schmieren, staubsaugen, putzen oder servieren. »Wir haben keine Namen und kommen im ganzen Roman überhaupt nicht vor«, sagt Grafs Bursche in einer Art Vorspiel ins Publikum – was aber nicht ganz stimmt. Fitzgeralds Gesellschaftsporträt bezieht das arbeitende Volk in den Figuren des Automechanikers Wilson und seiner Frau Myrtle sehr wohl mit ein. Ihr Ziel aber deckt sich mit dem hier präsentierten: am vorgelebten Reichtum zu partizipieren. Marciniak will uns also Gatsby von unten zeigen, aber ganz ohne Wallraff und revolutionären Impetus.
Immerhin verdankt sich dieser Sichtweise ein erster Höhepunkt des Abends, wenn die parlierende Teegesellschaft bei den Buchanans plötzlich verstummt und innehält, während Nina Wolfs Mädchen in völliger Stille minutenlang mit Sorgfalt den Esstisch richtet. Dann setzt Musik wieder ein, ist im Nu das Arrangement ruiniert beim ersten Stelldichein mit der irrlichternden Daisy (Sarah Grunert), dem Egoshooter Tom (Arash Nayebbandi), der exaltierten Stargolferin Jordan Baker (Linda Pöppel) und dem ambitionierten Börsenmakler Nick (Isaak Dentler), der freilich noch nicht ganz dazugehört und wie auch bei Fitzgerald als der eigentliche Erzähler der Geschichte fungiert.
Ansatzweise stimmt sich das am Bühnenrand platzierte Live-Trio jetzt schon in Richtung Charleston ein, was bei Nicks Tanzversuchen mit Jordan an John Travolta erinnert – freilich den hüftsteifen aus Tarantinos »Pulp Fiction« mit Uma Thurman. Nur eine Szene später auf der Superparty bei Gatsby geht das sehr viel besser. Die Großchoreografie (Agnieszka Kryst) à la Babylon Berlin und Friedrichstadt-Palast ist schlechthin mitreißend.
Die auf einer weißen Plattform basierte Bühne muss man sich als kubistisch angehauchte Stillandschaft aus geometrischen Symbolen vorstellen, ein aufragender (Wohn-)Turm, eine trapezförmige Schräge, ein mit Längslamellen bestückten Halbkreis, der jedes Bahnhofportal schmücken würde, von Aleksandr Prowalinski beleuchtet, aber so recht erst als untergehende Sonne zur Entfaltung kommt. Die sich drehende Kulisse wird zur Partyzone, zum Living Room, zum Hotelzimmer oder zur Freiterrasse mit Blick auf die Küste von Long Island, die uns auf ein auf die Rückwand projiziertes Gemälde imaginieren lässt. Eine Freundin will gar Sand aus Marciniaks Tove-Projekt entdeckt haben. Gekleidet sind alle zeitgemäß retro mit Glitzer, Fransen, Pailletten und Hosenträgern.
Wie eine Nummernrevue kommt uns nun die Inszenierung vor, eine Abfolge von Spotlights: wie das den Partytalk persiflierende Solo von der Gastspielerin Linda Pöppel – schön sie wieder zu sehen in Frankfurt –; wie der Hemdenregen des herzerweichend hilflosen Gatsby von Christoph Bornmüller; wie die eingestreuten Songs des Mädchens und des Burschen.
Vielleicht liegt an diesem Sound- und Bilderbogen, dass man den Gesprächen und Dialogen oft nur mit Mühe folgt und dann gar nicht versteht, wieso die fast zurückeroberte Daisy sich wieder abwendet von Jay und wie es zu der hier nur vermeintlich tödlichen Autotour kommt, auf der Daisy »das Mädchen« überfährt. Und weshalb Marciniak in einem weiteren Kunstgriff eine alt und vergesslich gewordene Daisy II einführt, die eine famose Heidi Ecks derart tuttelig darstellt, dass man ihr sogar ihre Verwechslung der Einsätze abnimmt.
Das Ende gehört dann wieder den Subalternen, die in einer eher ratlos machenden Volte nun Pensionsbesitzer sind und behaupten, den Unfall selbst inszeniert zu haben, um sich mit erpresstem Geld eine neue Existenz zu sichern. Da fühlt man sich wie bei »Um die Ecke gedacht« im Zeit-Magazin.boder denkt gar an eine Arbeitsbeschaffunsmaßnahme für dysfuntional gewordene Rollen. War vielleicht doch keine gute Idee – diese Sicht von unten in einem sonst aber empfehlenswerten Spektakel.