»Irgendwann werden wir uns alles erzählen« von Emily Atef

Die Monate vor und nach dem Tag, als die Mauer fiel und die DDR unterging, scheinen weder in der Literatut noch im Film zu Ende erzählt zu sein. Besonders interessant sind die privaten Geschichten von damals, in denen sich die politische Situation mal mehr, mal weniger spiegelt. Sie müssen nur gut erzählt und glaubhaft dargestellt werden.

Aelrun Goette zeigte uns beispielsweise »In einem Land, das es nicht mehr gibt« eine Ost-Berliner Modeszene, die ziemlich westlich anmutete. Da hinein geriet die junge Fabrikarbeiterin Suzie, die nicht studieren durfte, aber die Fotogenität eines Models besaß. In dieser Rolle war Marlene Burow eine Entdeckung. Es war klar, dass man sie bald in einer weiteren Hauptrolle wiedersehen würde. Und so ist es auch gekommen.
In »Irgendwann werden wir uns alles erzählen«, der Verfilmung eines Romans von Daniela Krien, spielt sie die jugendliche Maria, die im Sommer 1990 die Schule schwänzt und sich stattdessen in Dostojewskis »Die Brüder Karamasow« vertieft. Sie lebt auf einem grenznahen Bauernhof in Thüringen, der seltsamerweise nicht von einer LPG geschluckt wurde. Er gehört der Familie ihres Freundes Johannes (Cedric Eich). Maria und Johannes haben sich unter dem Dach des Wohnhauses ein kuscheliges Liebesnest eingerichtet.
Die junge Frau befindet sich in dem Zwischenstadium, in dem sie ihre Kindheit gerade verlassen hat und in die Welt der Erwachsenen eintritt. Die Familie von Johannes hat sie wie ein weiteres Mitglied aufgenommen, man lässt sie in Ruhe ihren Dostojewski lesen. Dieser von Selbstzweifeln und Epilepsie geplagte Autor war ein Meister im Beschreiben psychischer und ethischer Konflikte, was ihn gerade für junge Menschen besonders anziehend macht.
Maria lebt also großenteils in Dostojewskis Welt, und bald wird klar, dass ihr zielstrebiger Freund, der vom Fotografieren begeistert ist und sich deshalb in Leipzig an der Kunstakademie bewirbt, nicht zu ihrer romantischen Unruhe passt. Den wesentlich älteren Henner (Felix Kramer), der mit seinen zwei Hunden auf einem Nachbarhof haust, lernt sie nach einem Autounfall kennen. Mutter Hannah (Jördis Triebel) hat die Kontrolle über ihren Trabi verloren, der sich zum Erstaunen des Kinopublikums einmal seitlich überschlagen hat und samt geschockter Mutter und Tochter wieder auf seinen vier Rädern gelandet ist.
Henner ist eine eher literarische Figur, die Trakl-Gedichte liebt. (In Petzolds »Roter Himmel«, der auch auf der Berlinale lief, wird Heine rezitiert.) Er ist der faszinierende, dunkle Fremde, mit einer unglücklichen Geschichte. Seine verstorbene Mutter war gescheitert und wie Marias Mutter, nachdem diese von ihrem Mann verlassen worden war, dem Alkohol verfallen. Es sind gerade die Abgründe, die zur Erforschung einladen. Und das Feld, auf dem heutzutage nicht nur im Kino mit Vorliebe geforscht wird, ist die Sexualität.
Schon nach wenigen Filmminuten vergnügt sich Maria mit Johannes. Glücklicherweise wird der Verdacht, der mir sofort kam, dass nämlich den Autorinnen nichts Originelleres eingefallen sei, im weiteren Verlauf nicht bestätigt. Denn nicht nur auf besagtem Gebiet hat Regisseurin Emily Atef einiges zu bieten. Bei Marias sadomasochistisch angehauchten Begegnungen und auch beim Verschleiern der heimlichen Treffen des ungleichen Paares kommt so viel Spannung auf, dass ich mich gefragt habe, wie die Geschichte wohl ausgehen wird.
Atef schildert Maria als eine Süchtige, die nicht dem Alkohol, sondern einem Mann verfallen ist und sich unter Vorwänden, etwa dass sie ihre Mutter besucht, zu ihm schleicht. Formal gesehen, handelt es sich um eine ›amour fou‹, die nach einstiger Arthouse-Tradition auch tragisch endet.
Nebenher beschreibt der Film differenziert das Zwischenstadium, in dem sich Thüringen als Teil der ehemaligen DDR befindet. Das Land streift den Sozialismus gerade ab und ist dabei, die ersten negativen Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit zu machen. Doch die Welt steht offen, die ehemalige »Staatsgrenze« ist nur noch eine Formalität. Bald wird sie vollkommen verschwunden sein.
Irgendwelche politischen Fragen werden nicht gestellt. Wiedervereinigung ja oder nein, der Dritte Weg eines humanen Sozialismus – das alles ist kein Gesprächsstoff, was man merkwürdig finden kann. Statt dessen berichten die aus München angereisten Verwandten von ihrem Alltag. Dass es keine Ganztagsschulen in München gibt, und die Ehefrau sich nachmittags zu Hause um die Kinder kümmert, wird staunend zur Kenntnis genommen. Mit der staatlichen Kinderbetreuung (auch zur Ideologisierung der Kleinen) war man in der DDR schon weiter.
Am Ende bleibt ein melancholischer Blick auf den sonnigen Sommer von 1990 in einem Film, der besser um eine halbe Stunde gekürzt worden wäre.

Claus Wecker / Foto: © Pandora Film
-> Trailer
IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN
von Emily Atef, D/F 2022, 132 Min.
mit Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Christine Schorn, Jördis Triebel
nach dem Roman von Daniela Krien
Drama
Start: 13.04.2023

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