Mutters Liebe reicht nur für einen Sohn
Der Titel ist beziehungsreich. Auch hinter Adalbert Stifters berühmt/berüchtigter österreichischer Idylle versteckte sich das Grauen. Bargum, ein finnischer Autor, in Helsinki geboren, schreibt allerdings schwedisch. In seinem »Nachsommer« deckt er das Drama einer Familie auf. Es ist nach der »Septembernovelle« von 2014, das zweite Buch von ihm, das auf Deutsch erscheint. Eine Entdeckung, noch immer.
»Ich sitze auf der Veranda und schreibe diese Zeilen, bin allein. Das alte Landhaus, die Villa, hat sich geleert. Alle sind abgereist.« Der Ich-Erzähler Olof, etwa Mitte vierzig, hat eine anstrengende und unerwartet ereignisreiche Woche hinter sich. Sie begann mit einem Anruf von »Onkel Tom«, dem langjährigen Partner seiner Mutter: sie sei todkrank, und möchte in ihrem Landhaus sterben.
Olof informiert seinen Bruder Carl. Der war vor zwölf Jahren mit seiner Frau Klara nach San Francisco gezogen. Olaf kommt mit der gesamten Familie, also Frau und unterdessen zwei Kindern, etwas unwillig, aber sofort. Mit ihrer Ankunft in der Villa, in den südfinnischen Schären, kommt auch die Vergangenheit wieder zurück. Die verdrängten Erinnerungen brechen auf. (Bargum versteht es, anzudeuten, mit versteckten Hinweisen Ahnungen zu wecken.)
Olof hatte sein Leben lang unter dem zwei Jahre jüngeren Bruder Carl gelitten. Carl war fixer, frecher, mutiger. Schon als dreizehnjähriger war er größer und stärker als Olof. Aber vor allem war und blieb er der Liebling der Mutter. Ganz offen steht sie dazu. Egal, ob Carl die Streiche angestiftet hatte, Olof wird bestraft. Um endlich der Mutter auch einmal zu imponieren, übt Olof auf dem Klavier den Flohwalzer so lange, bis er ihn fehlerfrei und flüssig spielen kann. Die Mutter interessiert es nicht. Der schwache Vater ist schon lange tot. Stattdessen gibt es Onkel Tom, den langjährigen, inzwischen pensionierten Arzt der Familie.
Kaum sind alle im Landhaus versammelt, geht es auch schon wieder los. Die alten Rivalitäten, die alten Konflikte brechen wieder auf. Das Haus steht allein auf weiter Flur. Selbst zum Einkaufen muss man das Boot nehmen. Die Brüder fahren zusammen los. Olof steht auf dem Deck. Carl gibt plötzlich Gas. Olof fällt ins Wasser. Carl wendet und rast auf ihn zu, so, als wolle er ihn überfahren. Stoppt doch noch rechtzeitig und fischt den Bruder aus dem Wasser. Verächtlich sagt er: »Du bist und bleibst ein Schlappschwanz.«
Nur allmählich erfährt der Leser den Grund dieses so offensichtlichen und doch scheinbar so unbegründeten Hasses. Carl war doch der geliebte Sohn. Er hatte einen gut bezahlten Job, eine hübsche Frau, überhaupt nur Glück gehabt im Leben.
Eines Abends sitzen Klara, Carls Frau, und Olof alleine auf der Terrasse. Sie sprechen über drei Tage vor zwölf Jahren. Über ihre Affäre. Für Olof war es mehr als das. Und danach war für ihn nichts mehr wie es vorher gewesen war. Klara, das weiß er seitdem, ist »die Frau seines Lebens«. »Ich hatte keine Ahnung, dass man so verhext werden kann.« Olof hatte sich nie wieder fest binden können. Die beiden werden bei ihrem Gespräch belauscht. Sam, der zwölfjährige Sohn, hat die ganze Zeit zugehört. Zur Beerdigung erscheinen nur noch Onkel Tom, Klara, Sam und Olof. Carl scheint mit seinem jüngeren Sohn auf dem Rückflug nach Amerika zu sein. Vielleicht hat Olof am Ende doch mehr als nur einen Zipfel vom Glück erhascht.
Bargum beschreibt dieses Familiendrama in nüchterner Sprache. Er vermeidet jedes Pathos. Und er arbeitet mit Andeutungen, schreibt kurze, manchmal lapidare Sätze, die gerade deshalb so unter die Haut gehen. Wer genau liest, erfährt mehr. Manches lässt sich erschließen, einiges errechnen.