»Juliette im Frühling« von Blandine Lenoir

Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht. Alle Familien leiden auf unterschiedliche Art unter dem Zwang zusammenzuhalten, der sie oft unliebsame, manchmal auch traumatische Ereignisse verdrängen lässt. Das kann psychosomatische Störungen zur Folge haben. Ungewohnt komödiantisch erzählt dieser Film von solch einem Fall.

Als die dreißigjährige Juliette (Izïa Higelin) nach St. André de Corcy, dem Provinzstädtchen ihrer Kindheit, zurückkehrt, ahnt sie nicht, dass sie dort an den Ursprung ihrer körperlichen Beeinträchtigungen kommen wird. Die Illustratorin von Kinderbüchern leidet an Schlaflosigkeit, hat zudem seit einem Jahr nicht mehr menstruiert und will einfach nur zwei Wochen vom Stress in Paris ausspannen.
Leicht irritiert muss sie zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht vom Bahnhof abgeholt wird. Und als sie im Haus ihres Vaters Léonard (Jean-Pierre Darroussin) ankommt, wird schnell klar, dass es für sie schwer werden wird, in ihrer turbulenten Familie zur Ruhe zu kommen und die alte Geborgenheit wiederzufinden.
Léonard leidet mit zunehmenden Alter an Vergesslichkeit, Juliettes ältere Schwester Marylou (Sophie Guillemin) an der strapaziösen Organisation ihrer quicklebendigen Familie. Die besteht aus zwei schulpflichtigen Töchtern und ihrem Ehemann Stéphane (Éric Caravaca), der mehr mit sich selbst beschäftigt ist.
Zudem ist die Familie dabei, das Haus der Großmutter (Liliane Rovere) zu räumen, die gerade in einem Seniorenheim untergebracht wurde. Wie es bei so einer Gelegenheit nicht anders zu erwarten ist, steigen Erinnerungen im Gedächtnis der Familienmitglieder auf. Juliette erfährt, dass sie einen kleinen Bruder abgöttisch geliebt hat, der im Alter von fünf Monaten am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Den Schock hat sie komplett verdrängt.
Es dauert einige Filmminuten, bis unter dem lustigen Familiengewusel dieses ernste Kapitel der Familienchronik ans Licht kommt und die bis dahin leichte Komödie an Tiefe gewinnt. Zudem werden Marylous Seitensprünge entdeckt, was zu einer ernsten Ehekrise führt. Bis dahin haben ihr Liebhaber Adrien (Thomas de Pourquery), der mal im Bärenkostüm, mal als Gespenst auftaucht, und das esoterische Interesse der launischen Mutter (Noémie Lvovsky), die längst nicht mehr mit Léonard zusammenlebt, das Kinopublikum amüsiert. Und für den romantischen Touch haben die zaghaften Bande zwischen Juliette, der begabten Zeichnerin, und dem sehr sympathischen, dunkelhäutigen Übersetzer Pollux (Salif Cissé) gesorgt, der in Großmutters Haus eingezogen ist.
Von der Graphic Novel »Juliette: Gespenster kehren im Früling zurück« von Camille Jourdy war die französische Regisseurin Blandine Lenoir so begeistert, dass sie zusammen mit Maud Ameline und Camille Jourdy ein Drehbuch zu verfasst hat. Lenoir, die sich als Feministin versteht, wollte eine starke Frau – auch ausgiebig in barocker Nacktheit – zeigen, die unter ihrer Stärke leiden kann. Vor allem, wenn sie sich verpflichtet fühlt, immer mehr Aufgaben zu übernehmen. Die Männer in ihrem Film sind gutmütig, ihnen will es nicht so recht gelingen, ihre Gefühle zu zeigen.
Mit den Erfahrungen, die sie mit dem Publikumserfolg »Madame Aurora und der Duft von Frühling« gemacht hat, ist Lenoir ein unterhaltsamer Ensemblefilm gelungen, in dem die Frauen der Familie obendrein auch ähnlich ausschauen – bis auf die beiden der jüngsten Generation. Aber da hat sich wohl die väterliche Linie durchgesetzt.

Claus Wecker / Foto: © Pandora Film
>>> TRAILER
Juliette im Frühling (Juliette au printemps)
Komödie von Blandine Lenoir, F 2024, 95 Min., mit Izïa Higelin, Sophie Guillemin, Jean-Pierre Darroussin, Noémie Lvovsky, Eric Caravaca, Salif Cissé
Start: 18.07.2024

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