Kent Harufs endlich übersetzter Roman »Ein Sohn der Stadt«

Sechs Romane hat Kent Haruf geschrieben. Der Neue ist im Original bereits 1990 erschienen und erst jetzt bei uns. Alle seine Romane spielen in einer fiktiven Kleinstadt. Der letzte, »Unsere Seelen bei Nacht«, wurde mit Jane Fonda und Robert Redford auch erfolgreich verfilmt. In diesem Kaff kennt jeder jeden. Und jeder achtet auf den anderen. Geheimnisse gibt es keine. Haruf beschreibt den Schrecken, der sich hinter der Idylle verbirgt. Und das Glück, das möglich wäre, aber nie wirklich wird, in Holt, Colorado. Haruf beschreibt die Melancholie des gescheiterten Lebens. Und die Hoffnung, die dennoch bleibt.

Eines Tages war Jack Burdette weg. Sein Freund Pat, Herausgeber der Lokalzeitung, erzählt uns diese Geschichte. Die Polizei hatte den geflüchteten Jack bis nach Kalifornien verfolgt, aber dann die Spur verloren. Immerhin hatte er 150.000 $, die der Getreidekooperative gehörten, mitgehen lassen. Man hatte ihm vertraut. Er war Manager geworden. Mit Hilfe des Buchhalters gelangen ihm, über Jahre hinweg, diese Unterschlagungen. Kurz vor seiner Entdeckung machte er sich mit dem Geld aus dem Staub. Er ließ eine hochschwangere Frau, zwei kleine Jungs und den Buchhalter Charlie Soames zurück, der sich, bei einem Selbstmordversuch, zum Krüppel schoss.
Jack war schon immer schwierig gewesen. Schon in der Grundschule war er aufsässig, blieb auch sitzen. In der Highschool täuschte er Aufmerksamkeit vor – sprich, er schlief nicht während des Unterrichts ein – und wenn er drangenommen wurde, um etwas vorzutragen, stand er auf und erzählte Witze. Da kam immer Unruhe auf. Die Jungens johlten. Die Mädchen kicherten. In kürzester Zeit lernten die Lehrer, ihn nicht mehr aufzurufen.
Zwei Dinge helfen ihm durch das Schulleben: Wanda Jo Evans, die, egal, was Jack macht, ihm die Hausaufgaben erledigt und zu ihm steht, weil sie rettungslos in ihn verliebt ist.
Und Football. Er ist ein erstklassiger Footballspieler, ein Muskelprotz, »breitschultrig und grobknochig, einzigartig, unglaublich und brutal«.
Als er sechzehn Jahre alt ist, kommt sein Vater bei einem Autounfall ums Leben. Mit der Mutter überwirft er sich und zieht in eine billige Absteige in Holt. Geld verdient er sich durch Nebenjobs unter anderem in der Farm-Kooperative. Nach dem Abschluss erhält Jack ein Sportstipendium in Boulder, wo auch sein Freund Pat, der Ich-Erzähler, Journalismus studiert, um die Zeitung seines Vaters, »Holt Mercury« einmal zu übernehmen. Für die beiden Freunde war das »ein zusätzliches Band«. Doch Jack stiehlt einem Studenten ein Radio. Er wird aus dem College geworfen, geht zwei Jahre zum Militär und kehrt dann nach Holt zurück. Wanda Jo hat auf Jack gewartet. Sie wird seine feste Freundin, wäscht seine Wäsche und hofft acht Jahre lang, dass er sie heiratet. Stattdessen, er ist inzwischen Manager der Kooperative geworden, macht er eine Fortbildung in Tulsa und kommt mit einer Jessica zurück nach Holt, tatsächlich sind sie verheiratet. Für Wanda Jo war es ein »beinahe tödlicher Schlag«. Sie kam abends von der Arbeit und betrank sich mit billigem Wodka bis sie einschlief. Jessie, eine »dunkelhaarige, ruhige, willensstarke und selbständige Frau«, bleibt in Holt eine Außenseiterin. Sie will in keinen Frauenclub eintreten. Sie sucht keine Kontakte.
Für die Frauen in Holt bleibt sie eine Art Mysterium. Das nimmt man ihr übel. Als Jack nach fünf Jahren Ehe mitsamt dem Geld verschwunden ist, rächen sich die Frauen an ihr. Wer sich nicht ihren Regeln unterwirft, bleibt draußen und wird erbarmungslos abgestraft. Provinzielles Leben, triviale Schicksale. Nüchtern, aber nicht mitleidlos beobachtet. Im Gegenteil: Harufs Figuren rücken uns auf die Pelle. Wir spüren ihr Unglück. Und hoffen mit ihnen, auch wenn wir wissen, dass es vergeblich ist. Sherwood Andersons »Winesburg, Ohio« könnte die Partnerstadt von Holt, Colorado sein. Siebzig Jahre Zeitunterschied, die man kaum spürt. Das Leben in der amerikanischen Provinz scheint stillzustehen.
Auch der Ich-Erzähler Pat lebt seit achtzehn Jahren in einer unglücklichen Ehe, die nur durch ihr Kind Toni noch zusammengehalten wird. Als Toni bei einem Autounfall ums Leben kommt, trennen sich die Eltern.
Jessie und Pat, nun beide allein, befreunden sich. Und kurze Zeit scheint, als gäbe es doch ein kleines Glück. Bis plötzlich Jack wieder auftaucht. »Er saß in einem roten Cadillac, der glänzte und funkelte während er dick, ja fettleibig wirkte, schmuddelig und aufgeschwemmt. Er hatte schütteres Haar und das Fleisch hing an ihm herunter wie Talg.« Er wurde verhaftet, doch sie mussten ihn gleich wieder frei lassen, die Tat war verjährt. Er zwingt Jessie und die Kinder mit dem Jagdgewehr in den Wagen und nie wieder hat jemand aus Holt von ihm gehört, denn wenn sich Burdette auf etwas verstand, dann »wie man sich in Luft auflöste«.
Und am Ende schreibt Pat, der Ich-Erzähler: »Ich bin immer noch im Holt County. Ich gebe immer noch die Wochenzeitung heraus«. Und auch sonst hat sich eigentlich nichts verändert. Eine Katastrophe? Ein Trost? Man weiß es nicht.

Sigrid Lüdke-Haertel (Foto: © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif)

Kent Haruf: »Ein Sohn der Stadt«, Roman.
Aus dem Amerikanischen von pocaio und Roberto de Hollanda. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 288 S., 24€

 

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