Viele der großen Geschichten der amerikanischen Literatur spielen sich in den kleinen Städten ab. Sherwood Anderson hat sich sein legendäres »Winesburg, Ohio« erfunden. William Faulkner ein »Jefferson, Mississippi«. Die Welt des Südens an einem Ort. Und Kent Haruf, der 2014 gestorbene Erzähler aus Colorado, lässt eine Generation später seine Leute in »Holt« leben. Diese Orte, in denen nichts passiert, eignen sich deshalb für die großen Dramen im kleinen Rahmen.
»Als die Ergebnisse aus dem Labor kamen, führte die Krankenschwester sie beide ins Untersuchungszimmer. Der Arzt, der eintrat, sah sie nur an und bat sie, Platz zu nehmen. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, wie die Dinge standen.« Keine vierzehn Tage später wird Dad Lewis tot sein. In dieser Zeit lernen wir ihn kennen, seine Familie, die Nachbarn und Freunde und einige Bewohner des kleinen, sehr realen und doch fiktiven Ortes Holt in Colorado. Tochter Lorraine, eine hübsche Mitfünfzigerin, die im gut zwei Stunden entfernten Denver lebt, kommt nach Hause, um ihrer Mutter bei der Pflege zu helfen. Sohn Frank, drei Jahre jünger als Lorraine, war gleich nach dem Highschool-Abschluss aus Holt weggegangen. Er hatte den Kontakt zu den Eltern abgebrochen, weil der Vater seine Homosexualität nicht akzeptieren konnte.
An solchen Orten kennt jeder jeden, mit den entsprechenden Vorteilen, vor allem mit den damit verbundenen Nachteilen. Kent Haruf versteht es, mit wenigen Strichen komplexe Bilder zu zeichnen.
Ein Lichtblick in den eher schwierigen Beziehungen der Menschen in Holt ist die achtjährige Alice. Alle mögen das hübsche nette Kind, obwohl sie selber in ihrem kurzen bisherigen Leben viel Kummer erlebt hatte. Der Vater machte sich früh aus dem Staub, die Mutter starb vor kurzem an Krebs, sodass sie zu ihrer Großmutter nach Holt zog.
Durch Rückblenden lernen wir das überschaubare Personal dieses Buches kennen. Dad Lewis, der als 22-jähriger die Eisenwarenhandlung in Holt übernahm, wurde jahrelang von seinem Angestellten Clayton hintergangen. Als Lewis es entdeckt, ist er gnadenlos. Obwohl Clayton bereit ist, alles Geld zurückzuzahlen, wirft er ihn hinaus. Der Vater von zwei kleinen Kindern sieht keinen anderen Ausweg und nimmt sich das Leben. Pfarrer Lyle, erst vor kurzem von Denver nach Holt versetzt worden, hat nach kurzer Zeit den Großteil auch dieser Gemeinde gegen sich. Denn er predigt seine »Prinzipien«. Seine Gemeinde will davon nichts hören. Selbst seine Frau, die sich auch von ihm trennen will, meint nüchtern: »Wozu sind sie letztendlich gut?« Sie »bieten einem keine Sicherheit (…) Die Leute wollen nicht behelligt werden (…) Sie wollen nur hören, was sie schon immer gehört haben – und dann wollen sie nach Hause gehen zu ihrem Sonntagsbraten und zufrieden sagen, was für ein schöner Gottesdienst.«
Haruf erzählt, ganz lapidar, mit wenigen Worten, vom Alltag dieser Menschen, von ihren mickrigen Sorgen und ihren kleinen und großen Nöten. Das Außergewöhnliche hat keinen Platz in der Kleinstadt. Was aus dem Rahmen fällt, wird beiseite gefegt. Der Homosexuelle wird geächtet und auch verprügelt, bis er verschwindet. Unter der nicht nur vermeintlichen, sondern auch tatsächlichen Nähe der Menschen, ihrer praktischen, jederzeit abrufbaren Hilfsbereitschaft wird die Kehrseite sichtbar, eine unfassbare Kälte. Die Frau, die sich zu offensichtlich eine Affäre geleistet hatte, wovon sicher einige träumten, was sich aber kaum einer gestattet hat, wird zwar nicht verjagt, aber geächtet. Der Preis, ihre Einsamkeit, aber: »Hier passiert nichts, ohne dass alle Leute es mitkriegen«.
Die Menschen hadern immer wieder mit ihrem Leben, aber meist verzweifeln sie nicht. Irgendetwas gibt ihrem Leben einen Sinn. Und das ist tatsächlich dieses (durchaus ambivalente) Gefühl von Gemeinschaft.
Wir begleiten Lewis in seinen letzten Lebenstagen und erfahren sehr genau, wie er ganz allmählich immer schwächer wird, wie sein Körper rapide verfällt. Aber Lewis hat seinen Frieden gemacht, mit sich, seinem Leben, seiner Welt.
Kent Haruf beschreibt mit klarer Sprache, ohne alles Pathos und doch eindringlich, das Leben und das Sterben dieses Mannes. Selbst die heikelsten Situationen bewältigt er mit seiner bewundernswerten Kunstfertigkeit. Kent Haruf ist ein großer Erzähler aus einer kleinen Welt. Seine »Kostbaren Tage« gehen einem an die Nieren. Ein ergreifendes, aber wie der Titel verspricht, auch kostbares Buch.
Sigrid Lüdke-Haertel (Foto: © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif )
Kent Haruf: Kostbare Tage. Roman.
Aus dem Amerkanischen von pociao und Roberto de Hollanda. Diogenes Verlag, Zürich, 2020, 347 S., 24 €