»Bei van Welt hat es gebrannt?«, fragte Lucas.
»O Gott. Ist die ganze Sammlung hinüber?«
»Wer ist von Welt?«, fragte ich.
Wer Bücher liebt, wird diesem Roman kaum zu widerstehen wissen. »Das Buch der kostbarsten Substanz«, so sein Titel, lag der Autorin so sehr am Herzen, dass sie dafür einen eigenen kleinen Verlag gegründet hat. Dies auch, um die Geschichte ohne die Einrede von Marketing-Abteilungen veröffentlichen zu können. In Deutschland ist es Herausgeber Thomas Wörtche, der seine Hand über dieses Buch hält, die formidable Übersetzerin Conny Lösch besorgt und jetzt in der von ihm kuratierten Kriminalroman-Reihe im Suhrkamp Verlag herausgebracht hat. Es ist Buch Sieben für Sara Gran, die uns unter anderem schon mit drei Romanen um Meisterdetektivin Claire DeWitt begeistert hat.
»Bevor sie hauptberuflich als Schriftstellerin arbeitete, hat sie in einer Vielzahl von Berufen gearbeitet, die alle mit Büchern zu tun hatten«, weiß Wikipedia über Sara Gran. »Das Buch der kostbarsten Substanz« hat die Buchhändlerin Lily Albrecht als Ich-Erzählerin. Sie handelt mit seltenen und kostbaren Büchern, war selbst einmal eine nicht unerfolgreiche Schriftstellerin. Jetzt hofft sie auf einen großen Deal, der ihre existentiellen Sorgen beenden könnte. New York ist der ideale Ort für ihre Art Geschäft – die Welt der Büchersammler und Sonderlinge –, ansonsten aber ist die Stadt für sie zu teuer. So lebt sie 115 Meilen nördlich in einer kleinen Stadt am Hudson. »Der Ort wurde einst von Niederländern gegründet, das Land hatten sie von den Iroquois gestohlen. Mir gehörten ungefähr sechstausend Quadratmeter davon, darauf stand ein kleines Haus, in dem wir lebten, und eine große Scheune, in der ich meine Bücher aufbewahrte.«
In einem früheren Leben hat sie in Brooklyn, Oakland, Taos, Sedona und Phönix gewohnt. Das kommt ihr längst wie fernste Vergangenheit vor. Ihr Lebensgefährte Abel, ebenfalls ein Schriftsteller, sitzt im Rollstuhl, er weiß nicht mehr, wer er ist. Als sie ihn kennenlernte, sah er aus »wie James Dean oder Cary Grant; ein Mann, den man in Schwarz-Weiß sieht und denkt, solche gibt’s heute gar nicht mehr«.
Auf den ersten, schnell vorbeifliegenden fünfzig Seiten des Buches skizziert Sara Gran zum einen die Berufswelt der Antiquare und Büchernarren, zum anderen die Geschichte einer Beziehung, in der eine der beiden Hauptpersonen in der Demenz verschwindet. O-Ton Sara Gran: »Es dauerte ein Jahr, bis wir einen Namen für seinen Zustand bekamen: Frühe Demenz … Drei Jahre ist inzwischen her, dass er sein letztes Wort gesprochen hat. ›Sandwich‹ hatte er gesagt, sein letztes Wort, und dabei auf einen Teller Suppe geschaut.«
Sie gehen von Arzt zu Arzt. Sie müssen ihre Bücher verkaufen, so wird sie zur Buchhändlerin.
Der Roman profitiert von der Milieu- und Sachkenntnis der Autorin. Viele, kleine schöne Details geben Einblick in eine Welt, die wir nur als Klischee kennen. Da sieht jemand »aus wie ein typischer Antiquar: Mitte fünfzig mit beginnender Glatze und unvorteilhafter Gesichtsbehaarung, in irgendwie gleichzeitig zu großen und zu kleinen Klamotten … Wie bei den meisten Bücherfreaks lag ein Schatten auf seinen Zügen, der hohle Nachklang eines Lachens, das einem deutlich mitteilte, er würde sich eigentlich viel lieber mit Büchern abgeben als mit Menschen. Wer konnte es ihm verdenken? Viele von uns waren genau deshalb in der Branche. Menschen hatten uns enttäuscht. Und das Herz gebrochen. Wir mochten Bücher, Tiere und unaufgeräumte Zimmer voller Dinge, die keine Menschen waren.«
Der derart beschriebene Kollege fragt Lily, ob sie ein äußerst seltenes Buch mit dem Titel »Pretiosus Materia« oder so ähnlich kenne, also wohl »Kostbare Materie«. 33 Prozent Verkaufsanteil bietet er ihr an, wenn sie es findet. Solche Suchanfragen schlagen in der kleinen Bücherwelt schnell hohe Wellen. Lily tut sich mit Lucas Markson, einem zum Freund gewordenen Stammkunden zusammen, der die Raritätenabteilung »einer großen Universitätsbibliothek in einem der gehobeneren Stadtteile« leitet und über ein großes Budget für Neuanschaffungen verfügt. Er hat immer Geld und ist außerdem – beides eine Seltenheit in der Buchbranche – immer gut gekleidet. Einen Meter achtzig groß, ansprechende Gesichtszüge »und für einen Büchermenschen ungewöhnlich viel Charme … Sein einziger Makel, der ihn auch als Bücherwurm erkennbar machte, war eine eigenartige Nervosität, manchmal nahm er ganz unerwartet Blickkontakt auf oder eben nicht«.
Lucas flirtet seit Jahren mit Lily, ist gleichzeitig klar bindungsunfähig, der ideale Partner also für eine kleine Affäre, die sich bis zu einem überraschenden Ende quer durch das Buch zieht und es auf der Sinnesebene erdet. Die nämlich bebt schon schnell, heißt das gesuchte Werk doch vollständig »Das Buch der kostbarsten Substanz: eine Abhandlung über die verschiedenen Flüssigkeiten und ihren Nutzen« – die menschlichen Körpersäfte also als okkulte Zaubermittel, als Mittel der Sexualmagie. Wenn man sie zusammen mit dem Buch richtig einzusetzen weiß.
Eine Million Dollar bietet ein potentieller Käufer für ein Exemplar. Am nächsten Morgen ist der Kollege, der Lily davon erzählte, tot. Ermordet. Aber da hat das Buch Lily bereits in seinem Bann. Aus Seite 76 hat sie erstmals nähere Informationen über das Grimoire (so der Fachbegriff für ein Zauberbuch mit magischem Wissen). Es gibt wohl nur drei Exemplare, alle aus dem Jahr 1620, aber nicht gedruckt, sondern alle von Hand kopiert, darunter auch eine sogenannte »Frankfurter Ausgabe«.
Ganz ohne Theaterdonner und Nebelkerzen zieht die mit feinem Humor dosierte Erzählung immer mehr in den Bann. Die Suche nach einem Schatz, nach Zauberkräften – und ja, auch nach Macht – ist seit jeher einer der großen Topoi der Literatur. Aladin, Ali Baba, Sindbad, die bereits 150 vor Christus nachgewiesenen griechischen Zauberpapyri aus Ägypten, die »Merseburger Zaubersprüche«, die multiperspektivische »Handschrift von Saragossa« von Jan Graf Potocki (1761–1815), Stevensons »Schatzinsel« und J. R. R. Tolkiens »Der Herr der Ringe«, Michael Endes »Die unendliche Geschichte«, Cornelia Funkes »Tintenwelt«-Trilogie oder Walter Moers’ »Die Stadt der Träumenden Bücher« bis hin zur finsteren »Geschichte des Necronomicon« (1938) von H. P. Lovecraft, sie alle erzählen von Suche, Lektüre und Wissen, bilden eine eigene, subkutane Kulturgeschichte des Buches – erzählen von Bücher-Macht. Und die mutigsten von ihnen sogar davon, »Wie man Höllenfürsten handsam macht«, so Stephan Bachter 2002 über »Zauberbücher und die Tradierung magischen Wissens«.
Sara Grans Buch ist eines für Erwachsene, bei aller fast unwiderstehlichen, fast kindlichen Schmöker-Lust, die die Lektüre weckt. Es geht um Sex und Begehren, um Orgasmen und Lust, um Körpersäfte und Grenzüberschreitungen, aber auch um Verzicht und wahre Liebe, letztlich gar um die Reinheit des Herzens und was einen glücklich macht. Und über allem liegt stets ein Schatten von Noir. Sara Gran ist eine Magierin. Ihr Buch lässt das ganz einfach aussehen. Wie wir wissen, ist das Kunst.