»Manchester by the Sea« von Kenneth Lonergan

Ein Meisterwerk

Aufrichtigkeit ist eine Tugend, die im Kino nicht oft anzutreffen ist. Schließlich geht es in diesem Medium per Definition um die Herstellung von Illusion, und der Vertrag mit dem Publikum schließt stets eine gute Portion süßer, kleiner Lügen mit ein. Aber ab und zu kommen Filme wie Kenneth Lonergans »Manchester by the Sea« daher, die solche Übereinkünfte ganz beiläufig über Bord werfen und uns direkt in die Augen schauen.

Nicht zufällig ist der Film an der winterlichen Küste im Norden von Massachusetts angesiedelt, wo die Luft klar und kalt ist und Gespräche im Freien knapp gehalten werden. Aus Boston wird Lee Chandler (Casey Affleck) zurück in seine frühere Heimatstadt Manchester-by-the-Sea gerufen. Sein älterer Bruder Joe (Kyle Chandler) hat einen Herzinfarkt erlitten. Aber Lee kommt zu spät und kann im Krankenhaus nur noch die sterblichen Überreste besichtigen. Er scheint den Verlust mit Fassung zu tragen, so wie er als Hausmeister in Boston die Beschwerden seiner Kunden mit unerschütterlichem Dienstleister-Stoizismus erträgt. Aber das ist nur der äußere Schein eines Mannes, der seine Gefühle unter Kontrolle hält, weil er weiß, wie es ist, wenn sie ihn überwältigen. In dem ermüdeten Gesicht erkennt man vielleicht nicht die Emotionen, aber in den Augen und dem angespannten Körper spürt man die Kraft, die es kostet, sie im Zaum zu halten. So etwas muss man spielen können. Und Casey Affleck kann das. Lee Chandler ist die Rolle seines Lebens, möchte man sagen. Aber dann denken alle nur an Di-Capri-De-Niro-Overacting. Affleck hingegen legt die Seele seines verschlossenen Helden mit archäologischer Geduld und schauspielerischem Nuancenreichtum ganz allmählich frei.
Als Lee bei der Verkündung des Testaments die Vormundschaft für seinen 16-jährigen Neffen zugesprochen bekommt, ist für ihn klar, dass er diesen Auftrag seines verstorbenen Bruders nicht annehmen kann. Zunächst vermutet man nur männliche Verantwortungsscheu dahinter, aber dann werden in kurzen Rückblenden sukzessive die traumatischen Erlebnisse in Lees Vergangenheit beleuchtet, die ihn vor dem Erziehungsauftrag zurückschrecken lassen. In einer klug verschachtelten Dramaturgie werden hier ohne künstliche Verrätselung die Zeitebenen ineinander geschoben und ein komplexes Bild des Protagonisten und seiner familiären Beziehungen zusammengesetzt. Dabei überzeugt Lonergan vor allem durch seine entschlackten Dialoge, die nah an der Alltagssprache der Working Class eine ganz eigene Präzision und Poesie vermitteln. Leise Komik und herzzerreißende Dramatik liegen hier ganz dicht beieinander, ohne dass das Publikum mit manipulativen Mitteln in die Empathie hinein getrieben wird. Der soziale Realismus, die Art, wie Landschaft, Wind und Wetter förmlich in die Figuren einzusickern scheinen, die harten Schnitte, die widersprüchliche Emotionen direkt kontrastieren, und das bis in die letzte Bank herrausragende Ensemble – all das vermittelt eine emotionale Glaubwürdigkeit, wie man sie nur noch ganz selten im Kino zu spüren bekommt.

Martin Schwickert
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MANCHESTER BY THE SEA
von Kenneth Lonergan, USA 2016, 137 Min.
mit Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges
Drama
Start: 19.01.2017
Filmtipp

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