Für den Beginn des neuen Jahres haben sich die Programmgestalter*innen des hr-Sinfonieorchesters, des Ensemble Modern und der hr-Bigband wahrhaft viel vorgenommen, »auch wenn die Zeiten denkbar schlecht sind«, wie hr-Musikchef Michael Traub konstatiert.
»cresc…«: die Biennale ist zum sechsten Mal Plattform für, wie es heute heißt, »aktuelle« Musik. Eine wahrhafte Herkulesaufgabe steckt hinter acht Erst- und Uraufführungen, die von unterschiedlichsten Ensembles und Solisten getragen werden.
Der isländische Pianist und jetzige Artist in Residence des hr-Sinfonieorchesters, Víkingur Òlafsson, hat sich im Oktober bereits mit dem Klavierkonzert »In Seven Days« des englischen Neutöners Thomas Adés fulminant vorgestellt. Im Februar 22 wird sich Òlafsson an eben dieser Biennale maßgeblich beteiligen, wenn sich eine musikalische Begegnung zwischen Island und Westafrika anbahnt. Vom 11. und 13. Februar werden mit »Waves of Island« große Bögen gespannt: zwei isländische Komponist*innen machen ihre nordische Klangwelt zwischen Gletschern, Vulkanen, Meer und Sagas hörbar. Víkingur Òlafsson wird ein Klavierkonzert seines Landsmannes Daniel Bjarnasson aus der Taufe heben, Chefdirigent Alain Altinoglu führt mit den Sinfonikern in die Traumwelt Edvard Griegs bzw. dessen Schauspielmusik zum berühmten Gedicht Hendrik Ibsens vom tragikomischen Weltenbummler »Peer Gynt«. Altinoglu beleuchtet und präsentiert im »Spotlight« am Vorabend des Konzertes (10. Februar) auf unkonventionelle Art als Gesprächskonzert Teile des »Peer Gynt«. Die berühmten Charakterstücke »Morgenstimmung« oder »Solveigs Lied« gewissermaßen als After-Work-Entspannung.
Die eigentliche Biennale »cresc…« beginnt am 25. Februar in der sog. Goldhalle des hr-Sendesaals mit »Earth Dances for Orchestra« des Harrison Birtwistle. Das hr-Sinfonieorchester und des Ensemble Modern erproben sich in der musikalischen Begehung von Klangeruptionen, sechsfach überlagert, tektonischen Verwerfungen ähnlich. Neu ist dieses Werk nun als begehbare Klang- und Lichtinstallation vor oder nach der Aufführung – ein gewissermaßen in das Werk Hineinlaufen, es spürbar zu erleben. Zur »freitagsküche« wird im Anschluss geladen, welche sich das Publikum mit Köchen zusammen erstellen wird. Mehr wird nicht verraten.
Mit »Fire & Ice« am Folgetag (26. Februar) erwarten die Zuhörer*innen ausnahmslos Erst- und Uraufführungen isländischer Komponist*innen mit einem der weltbesten (und nahezu omnipräsenten) Schlagzeuger, Martin Grubinger.
Am folgenden Wochenende gehen die Akteure auf Wanderschaft: am 27. Februar ist im Capitol Offenbach eine »Nightshift« geplant, ein work in progress der australischen (Kreativ-) Komponistin Catherine Milliken. Das Gründungsmitglied des Ensemble Modern wird zusammen mit Publikum, ihrem Ensemble Modern, Chor und Solisten ein in Grundzügen festgelegtes Projekt live realisieren, das sich am Gesamtmotto des Festivals »MeWe« orientieren soll: Beziehungen schaffen zwischen dem Ich und dem Wir. Ganz im Sinne einer Fortsetzung des 1975 »Give us a poem«-Zuruf Studierender an den berühmten Boxer und Menschenrechtsaktivisten Muhammad Ali, der als Antwort das wohl kürzeste »Gedicht« der Welt erfand: »Me We«.
In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Dakar bereitet sich das »Liberation Orchestra of Inverted Traditions« des Senegal dort auf ein Projekt vor, das am 4. März in der Centralstation Darmstadt aufgeführt wird. Zusammen mit dem Schweizer Komponisten und Schlagzeuger Jessie Cox stehen Improvisation und Symbiose aus Free Jazz mit Musiktraditionen der Sub-Sahara im Fokus. Später am Abend werden die hr-Bigband mit dem Arrangeur Samúel Jón Samúelsson mit Sci-Fi-Funk & Afro-Beat unter dem Motto »Black to the future« einen riesigen Bogen von Afrika zurück zum hohen Norden schlagen, nach Island.
Die Abschlusskonzerte am 5. März (Künstlerhaus Mousonturm, 16 Uhr und Frankfurt LAB, 19 Uhr) sind der jungen Generation zugedacht, wiederum mit neuen Werken von Elena Rykova aus Russland, Pablo Garretón Izquierdo aus Chile und Marko Nikodijevic aus Serbien, der sich mit dem Stück »music box« ein Selbstporträt mit Ligeti und Strawinsky ausgedacht hat – »und Messiaen ist auch dabei«. Am Ende des Konzerts wird es mit der Komposition »Workers Union« eine Verbeugung vor dem kürzlich verstorbenen Komponisten Louis Andriessen geben, einem Gründer der niederländischen Avantgarde.
Im Frankfurt LAB wird es die Rückkehr zum »Me We« geben mit Kompositionen zum erwähnten »Give us a poem«. Das Ensemble Modern, die Leiterin der Biennale von Venedig als »Coach Komposition« und der kompositorische Nachwuchs geben sich mit nicht weniger als fünf neuen Werken die Hand. Und die »freitagsküche« bereitet sich auf ein MeWeMeal vor – im Do-it-Yourself-Agit-Pop-up-Restaurant, sozusagen eine essbare Komposition.
Der Vorverkauf (auch für andere Konzerte) der Frühjahrs- und Sommerprojekte hat bereits begonnen. Vorbildlich seit Beginn der Pandemie in 2020 sind die Saalpläne großzügig im Schachbrettmuster angelegt, Zutritt zu den Veranstaltungen nur mit 2G plus.
Die Resonanz der ersten hr-Konzerte der Saison 21/22 ließen spüren, dass sowohl Publikum, als auch die Akteure geradezu einem Rausch verfallen sind, wieder leibhaftig lebendige Musik erleben zu dürfen. Es ist zu hoffen, dass die relevanten Behörden sich darauf besinnen, diese Art der Kultur nicht in einen Topf zu werfen mit etwa Fußballszenarien, in denen (mehr oder weniger unkontrolliert) der Virus weiterhin muntere Urständ feiern darf.
Und noch ein Hinweis auf das wieder geplante, beliebte Format des Music Discovery Project: nach der 2020 pandemiebedingten Absage bzw. nur als Livestream verfügbaren Konzert soll es am 25. und 26. März 2022 wieder in der Jahrhunderthalle stattfinden. Als »Heimspiel« wird die Frankfurter Popsängerin Alice Merton (No Roots; Why so serious?) ihre Songs zu klassischen Orchesterwerken beitragen, die ebenfalls in besonderer Weise zu Frankfurt stehen.
Bernd Havenstein (Foto: Vikingur Vikingur, © Ari Magg)