Stadtlabor im HMF: 25 Stationen zu Spuren der NS-Vergangenheit Frankfurts

Drei Koffer liegen neben der Couch eines Nierentischarrangements lose übereinander. Aus dem obersten hören wir eine Stimme. Sie kommt aus einem Kassettenrekorder und gehört einer Frau, die von Hildesheim erzählt. Einer Türkin, die in den 70er Jahren nach Hildesheim zu Blaupunkt kam. Die Firma hatte junge türkische Frauen mit besserem Schulabschluss gesucht. Zu nichts anderem, wie sich herausstellte, als Fließbandarbeit.
Wir sind im Historischen Museum Frankfurt (HMF), im Stadtlabor, das als Bürgerprojekt seit 2010 aus subjektiver Perspektive Themen mit aktuellem Bezug verfolgt, »auf Spurensuche im Heute« geht. Seit der Neueröffnung des HMF verfügt das Stadtlabor über 600 Quadratmeter Ausstellungsfläche (»Frankfurt Jetzt!«) im dritten Stock des neuen Gebäudes, die sich durch wechselnde Themen und Beteiligte ständig verändern. Zuletzt hat das Stadtlabor vor allem Großthemen des Hauses begleitet.
Das passiert auch jetzt für »Eine Stadt macht mit. Frankfurt und der NS«, die wir schon im Dezember-Strandgut angekündigt haben. An der Spurensuche des Stadtlabors haben sich 38 Frankfurter*innen verschiedensten Alters und unterschiedlicher Herkunft seit gut einem Jahr beteiligt. Etwa mit der Frage, welche Orte und Situationen in der Stadt sie persönlich an den Nationalsozialismus erinnern. Oder in welchen Einstellungen und Gefühlen sie die deutsche Vergangenheit noch immer spüren, obwohl sich alles sehr verändert hat. Das Ergebnis ist ein Ausstellungsparcours von 25 höchst unterschiedlichen Stationen.
Die eingangs erzählte kleine Geschichte schildert die erste Begegnung einer Türkin mit einem Denken, das sehr stark von Rassismus und Chauvinismus geprägt ist. Es ist nur ein Ausschnitt einer viel längeren Geschichte, und es ist nicht die einzige hier. Nebenan auf einem Monitor blicken Deutsche auf die Erziehungspraktiken, aber auch über Lehrinhalte der Schulen der jungen Bunderepublik bis in die 70er hinein. Auch Schüler von heute kommen zur Sprache. Sie erleben Rassismus, der oft als Scherz deklariert wird, »nicht so gemeint«, sobald man das zur Sprache bringt, aber täglich.
Zahlreiche prägende Orte und Gebäude der NS-Zeit werden gezeigt und besprochen: wie die Adlerwerke mit dem Vernichtungslager Katzbach, die Gedenkstätte der JVA Preungesheim, die Kaserne des berüchtigten Polizeibataillon 306 im Gutleut und viele mehr. Eine andere Station stellt 17 Häuser in Fechenheim vor, darunter bekannte Alt-Fechenheimer Gaststätten, in deren Räumen Zwangsarbeiter zusammengepfercht wurden. Wie Ugo Mallauri aus Reggio Emilia, dessen Verurteilung wegen »Arbeitsbummelei« festgehalten ist.
Hängende Schilder (Wortwolken) gehen gängigen Begriffen nach, die im Nationalsozialismus geschmiedet wurden: wie Lügenpresse, Gleichschaltung, Sonderbehandlung, aber auch Kulturschaffende und Eintopf. Ergänzt werden die Wortwolken von einer aufgezeichneten Schauspiel-Lesung zu Viktor Klemperers Lingua Tertii Imperii und einer Persiflage zum TV-Zitate-Spiel: Wer hat’s gesagt? Höcke oder Hitler? fragt hier Tocotronic-Sänger Dirk von Lotzow.
Unter zwei Dutzend von der Decke baumelnder Eintracht-Frankfurt-Schals geht es um die Geschichte und um Spieler des einst beschimpften »Judenvereins«. Die Station lässt aber auch den lange vorwiegenden Rassismus im Waldstadion nicht aus, dem noch gar nicht sooo lange in der Fan-Kultur entgegengewirkt wird.
Ein feuilletonistischer Filmbeitrag weitet das Thema der Hauptausstellung aus – ganz in deren Sinn: »Eine Stadt macht mit – und lügt sich frei« weist auf die »Schlussstrichgesellschaft«, die an Volkstrauertagen lieber der Gefallenen von Stalingrad als der Opfer von Auschwitz gedenkt.
Soweit eine erste flüchtige Impression aus dem Stadtlabor, das noch eine viele weitere Positionen behandelt und selbst nur Teil einer grandiosen wichtigen Ausstellung ist, die wir im Strandgut solange sie läuft (zum Teil bis April 2023) weiterbehandeln wollen.

Lorenz Gatt (Foto: Spurensuche in Fechenheim, © HMF)

Bis 11. September 2022: Di., Do., Fr. 10–18 Uhr; Mi., 10–21 Uhr; Sa., So., 11–19 Uhr
www.historisches-museum-frankfurt.de

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