Der Hund ist immer dabei
Michael Köhlmeiers tollkühne Geschichte von Churchill und Chaplin: »Zwei Herren am Strand«
In Thomas Kielingers neuer Churchill-Biographie »Der späte Held« heißt es: »Das Malen ist für Churchill eine heilsame Flucht, und es hilft ihm auch diesmal, wenigstens zeitweilig, dabei, gegen die Angriffe des ›schwarzen Hundes‹ anzukämpfen.« Was es mit diesem »schwarzen Hund« tatsächlich auf sich hat, erfahren wir, so plastisch wie eindringlich, in dem Roman von Michael Köhlmeier, der sich nicht scheut, (s)eine Realität zu erfinden und Charlie Chaplin dabei eine Rolle zuweist, deren Wirklichkeit bis ans Ende der Tage offen bleiben muss.
Eine verzwickte Geschichte: Der Ich-Erzähler, früher Lehrer, jetzt Clown, findet im Nachlass seines Vaters viele Briefe eines gewissen William Knott, dem »privatesten Privatsekretär« von Winston Churchill. Schon zu Lebzeiten hatte der Vater, der selber gerne Clown gewesen wäre, dem kleinen Jungen viel über Churchill, Chaplin und deren Verhältnis erzählt und darüber auch Essays, Aufsätze, Berichte verfasst. Die beiden Männer hatten sich 1927 auf einer Party in Santa Monica, Kalifornien, kennengelernt. Beide unterschieden sich nicht nur in ihrer Herkunft, Churchill stammte aus dem englischen Hochadel, Chaplin aus armen Verhältnissen, sondern auch in ihrer politischen und künstlerischen Einstellung. Dennoch erkannten sie schnell ihr gemeinsames Problem, den »schwarzen Hund«. So nannten sie beide ihre Depression. Sie verabredeten, dass sie, wann immer und wo immer auf dieser Welt der »schwarze Hund« ansprang, sich gegenseitig helfen würden. Dann trafen sie sich, wenn möglich, zu »talk-walks« (Chaplin) oder »duck-talk-walks« (Churchill), um sich vom Selbstmord abzuhalten. Sie erzählten sich aber auch von anderen Methoden. Während Churchill Landschaftsbilder malte, legte sich Chaplin bäuchlings nackt auf ein großes weißes Papier und schreibt sich, im Uhrzeigersinn drehend, Briefe, eine sichere Methode, um auf andere Gedanken zu kommen. Womöglich habe er diese Methode von dem deutschen Philosophen Adorno übernommen, über den während seines Exils in Kalfornien etwas Ähnliches erzählt wird. Auch er habe, heißt es, unter Depressionen gelitten. In seinem Essay »Methode des Clowns« beschreibt er das Problem zwar nicht praktisch, aber irgendwann »habe ihn seine Haushälterin dabei erwischt«. Immer, wenn Chaplin einen Film beendet hatte, oft musste er die Arbeit unterbrechen, packten ihn Selbstzweifel. Einem Reporter sagte er: »Der Clown ist dem Tod so nahe, dass ihn nur eine Schneide von ihm trennt.« Chaplin selbst, sei »eitel, egozentrisch, geizig, brutal, rücksichtslos, bösartig, lüstern«. In seinem größten Erfolg »Der Tramp« habe er sich besser gemacht als er ist, »das ist mein Betrug«. Churchill wiederum, der große Politiker, der bedeutende Historiker, der brillante Kolumnenschreiber, sogar Literaturnobelpreisträger, soll behauptet haben, »seine notorisch renaissancehafte Vitalität« sei ausschließlich »Disziplin gegen den Tod« gewesen. In Kohlmeiers Roman wimmelt es von skurrilen, auch absurden und vor allem natürlich wirklichen Begebenheiten. Historisch Verbürgtes ist also mit frei Erfundenem wunderbar verquickt. 1932 arrangiert Hitlers außenpolitischer Berater Hanfstaengl mit Ehepaar Churchill ein gemeinsames Essen. Während des stundenlangen Wartens, Hitler erscheint allerdings nicht, unterhält Frau Hanfstaengl die kleine Gesellschaft mit einer makabren Geschichte. Sie habe 1923, nach dem missglückten Münchner Putsch »Hitler daran gehindert, sich das Leben zu nehmen, indem sie ihm die Waffe mit einem Jiu-Jitsu-Griff aus der Faust gewunden und in einen Krug mit Mehl versteckt habe.« In fünf Kapiteln schildert uns der Ich-Erzähler, in geschickten Vor- und Rückblenden nicht nur biographische Einzelheiten aus dem Leben der beiden großen Männer, sondern auch höchst Intimes. Gelesen hat er das Meiste in den Briefen des Privatsekretär William Knott, der auch dafür da war, auf Churchill aufzupassen. »Ich kann es mir und England kann es sich nicht leisten, dass mich der schwarze Hund anfällt.« Diesen William Knott hat es vermutlich nie gegeben. Verbürgt aber ist, dass beide Männer auch einen gemeinsamen Feind hatten, den sie, jeder auf seine Art, bekämpften: Adolf Hitler. (Wer auf sicherem Gelände wandeln will, dem sei – zusätzlich – zu der neuen Churchill-Biographie geraten. Auch Charlie Chaplin kommt darin vor, einmal.)