Im Haus des Henkers, so ein berühmtes Diktum, darf (und kann) vom Strick nicht geredet werden. Deutschland, besiegt – und eben nicht befreit, von wem denn, vom eigenen Mit-Täter- und Mitläufertum? –, hatte nach dem Mai 1945 keine Worte. Keine Sprache. Keine Gefühle – für das, was da in zwölf Jahren geschehen war. »Und sagte kein einziges Wort«, wählte Heinrich Böll 1953 als Titel eines Romans. »Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Er blieb ein mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis«, fand später der Autor W.G. Sebald. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich erlebte 1946 die »beklemmende Atmosphäre« im Nürnberger Prozess selbst vor Ort: »Die Erkaltung der Beziehung der Menschen untereinander ist unfassbar, kosmisch wie eine Klimaschwankung.« Diese Unfähigkeit zu trauern fasste er 1967 in ein wegweisendes Buch mit eben diesem Titel.
Die amerikanische Journalistin Martha Gellhorn, ebenfalls Beobachterin in Nürnberg, schrieb damals über die angeklagten Nazikriegsverbrecher: »Alles in allem waren es einfache Männer mit der gewöhnlichen Anzahl von Beinen, Armen und Augen, geboren wie andere Männer; sie waren weder zehn Fuß hoch, noch hatten sie die abstoßenden Gesichter von Leprakranken … Man saß da, beobachtete sie und fühlte innerlich eine solche Empörung, dass es einen bestürzte. Diese 21 Männer, diese Nullen, diese fleißigen und selbstbewussten Monster … denen all die eingeschüchterten und gedankenlosen Deutschen gefolgt waren und die sie bejubelt hatten … Wegen ihnen sind zehn Millionen Soldaten, Matrosen, Piloten und Zivilisten im Krieg umgekommen und zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder in Gaskammern und Öfen krepiert … Was diese Männer zu tun fähig waren, hat keine Hungersnot, keine Plage, keine Strafe Gottes je geschafft: Sie haben eine Zerstörung verursacht, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat. Und da saßen sie nun mit versteinerter Miene … Vielleicht denken Sie, man sollte Mitleid haben. Wir sind nicht dazu erzogen, Schadenfreude zu empfinden, wenn wir gewinnen; wir finden es ganz normal, dass der Starke Erbarmen mit dem Unterlegenen hat. Aber die Mitleidlosigkeit dieser 21 Männer war so gewaltig, so jenseits menschlicher Vorstellungskraft, dass jetzt kein Mitleid mit ihnen möglich war.«
Am Tag der Urteilsverkündung, so notiert Martha Gellhorn, »sahen die Nürnberger Richter müder als aus die Männer, über die sie richteten … Auch die Anklagevertreter schienen vor Müdigkeit nicht mehr zu können«.
Paula Bloom, die Heldin von Andreas Pflügers Roman »Ritchie Girl«, den ich im letzten »Strandgut« besprochen habe, kennt sechs Millionen Gründe, Deutschland zu hassen. Und ebenso viele, sich selbst zu verachten. Durch Paulas Augen sehen wir auf ein erkaltetes, der Menschlichkeit fast beraubtes Land. Sie sehnt sich danach, »von diesem Gestade fortzusegeln, eine Argonautin auf dem Ozean des großen Vergessens«. Ohne Antworten aber kann sie nicht gehen. »Was hat Deutschland Ihnen angetan, dass Sie sich so mit der Frage quälen, ob Sie je verzeihen können?«, wird sie einmal gefragt.
Und sie fragt sich, wieder und wieder: »Welche Strafe wäre annehmbar für die Gruben in den Wäldern, die Teiche voll Asche, für die Gnadenlosigkeit, die Niedertracht, das Wegschauen, die Begeisterung über die Auslöschung eines Volkes?« Ungeheuer, unvergesslich in Pflügers Roman ist der Satz: »Ihre Asche ist mein Atem.«
Trauern konnten sie damals nicht, die Deutschen. Immer aber noch wollten sie glauben und wollten sie folgen, Teil von etwas Größerem sein. Unruhe-, Schuld-, Rache- und Hassgefühle wurden verlagert und in eine Sprache eingeschlossen, in der sie erneut maskiert wurden. »Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland« nennt die amerikanische Sozial- und Kulturhistorikerin Monica Black, die an der University of Tennessee in Knoxville lehrt, ihre Gegengeschichte Deutschlands, in der sie der Nachkriegszeit eine neue Deutung gibt.
Unter dem gefühllosen Verhalten, das zum Beispiel auch Anna Seghers beobachtete und erlebte (»Heimkehr in ein kaltes Land«), verbargen sich, so liest es Black, »Ängste, die nicht einmal einen Namen hatten«. Deutschland nach der Niederlage 1945 wurde, gleich ob Stadt oder Land, von Wunderheilern, von Hexenfurcht und Hexenprozessen, von Obsessionen, apokalyptischen Visionen und von Hoffnungen auf einen neuen Messias heimgesucht und erschüttert. Verschwörungs-Erzählungen hatten Hochkonjunktur, ebenso Wunderheiler. Eine der bekanntesten war Bruno Gröning, der zur »Großen Umkehr« aufrief, einen göttlichen »Heilstrom« an Kranke weiterleitete und eine millionenfache Anhängerschaft hatte. Wenn man das heute alles liest, mag es unglaublich erscheinen, aber es war so.
Das Verdrängte kehrte als zwanghafte Beschäftigung mit dem Bösen zurück. Dieses Buch öffnet ein Portal in ein von Dämonen heimgesuchtes Land – manch verschüttete Kindheitserinnerung von uns Nachgeborenen findet hier ein Echo.
In Japan, wo die Atombombe beschwiegen wurde, entstand das Filmmonster Godzilla. Und in Deutschland? Die junge Bundesrepublik, das zeigt »Der Verlorene«, die einzige Regiearbeit des (zeitweiligen) Exil-Heimkehrers und Schauspielers Peter Lorre von 1951, eindringlich und fast unerträglich, war eigentlich ein »Film Noir«. Überall Ruinen und enger Horizont, ein Leben von der Hand in den Mund, viele entwurzelt, gebrochen, beschädigt. Man sah in diesen Filmen, so charakterisiert es Monica Black, was es zu sehen gab, denn schließlich war es ein Film; aber man war sich nie sicher, was es zu bedeuten hatte. In Deutschland jedoch gedieh derweil, so betont Black, der bunte Heimatfilm, der tat, als gäbe es ein Volksleben voll naturnaher Unschuld. Auf seine Weise aber war er noch viel mehr »noir«.
Im deutschen Wald erschien kleinen Mädchen die Heilige Mutter Gottes, Inbegriff der Güte und des Verzeihens. Und nicht nur im deutschen Tann der Märchen, sondern mitten in der Gemeinschaft nisteten jetzt Hexen: eine Chiffre für von andern verübte böse Taten, für bösartige Verschwörungen und finstere Mächte. Ein »Fake-Post« am Stammtisch im Dorfgasthof genügte, um als Hexe abgestempelt zu werden. Menschen berichteten, dass sie von Teufeln verfolgt wurden. Exorzisten und Gebetsheiler hatten Hochkonjunktur. In Gerichts- und Polizeiakten fand Monica Black Beschreibungen von Gebetskreisen, deren Mitglieder zusammenkamen, um dämonische Ansteckungen zu bekämpfen. Es gab Massenpilgerreisen zu plötzlich heiligen Stätten, an denen Heilung und Erlösung möglich war. In so gut wie jedem deutschen Landkreis finden sich noch heute solche halboffiziellen Wallfahrtsorte – wie etwa der im oberfränkischen Heroldsbach. 1949 war es dort in einem Wäldchen zu einer Marienerscheinung gekommen: Wie den Hirtinnen von Lourdes erschien vier kleinen Mädchen die weiß-gewandete Madonna. Bald gab es 3.000 weitere Sichtungen (Visionen), 1,5 Millionen Pilger machten sich auf nach Heroldsbach, der Vatikan schritt ein. Das Phänomen brachte es bis auf das Titelblatt des »Spiegel«. Die Madonna ließ verkünden, dass alle, die nicht an sie glaubten, von den Sowjets massakriert würden.
Für uns Kinder im Allgäu, ein Marien-Wallfahrtsort keine zehn Kilometer weit weg, war es in den Fünfzigern eine Mutprobe, im Dorf in einem bestimmten Lebensmittelladen einkaufen zu gehen. Denn direkt gegenüber wohnte »die Hex«, eine alte kräuterkundige Frau, die manches Hausmittel gegen Krankheiten in Haus und Stall kannte und als böse gebrandmarkt worden war, dies über den Tod hinaus nie wieder loswurde. Bis heute weiß man im Dorf, wo »die Hex« gewohnt hat, das Grundstück ist deutlich weniger wert. Zwischen 1947 und 1965, so exemplifiziert Monica Black, kam es vom katholischen Bayern bis zum protestantischen Schleswig-Holstein zu Dutzenden sogenannter »Hexen-Prozesse«. Sie fanden in Dorfgasthäusern und Kinosälen statt, sie wühlten Kommunen und Gemeinschaften auf und führten in nicht wenigen Fällen in der Folge zu Verurteilungen wegen Verleumdung und Körperverletzung. Wunderheiler-Tribunale zogen sich auf amtlicher Ebene bis hinauf zum Verfassungsgericht, es wurden Verstöße gegen das Heilpraktiker-Gesetz und sogar fahrlässige Tötung festgestellt.
Geschichten von Standgerichtsbarkeit und Lynchjustiz aus den letzten Kriegsmonaten gehörten zur alltäglichen »oral history«. Mindestens 300.000 nichtjüdische Deutsche wurden noch 1945 vom Nazi-Regime und den örtlichen Handlangern wegen Verrats, Desertation oder Feigheit vor dem Feind umgebracht, aufgeknüpft, standrechtlich erschossen. Mein Vater war über 80 und ich arbeitete mit ihm am zweiten Buch über seine Kriegserlebnisse, als er mir das erste Mal davon erzählte, wie er als Kriegsheimkehrer, aus russischer Gefangenschaft geflohen, auf einer wackligen Seifenkiste stand, den Strick schon um den Hals, und aufgeknüpft werden sollte, weil seine Papiere nicht vollständig waren.
Der deutsche Philosoph Hermann Lübbe vertritt die These, dass das Schweigen über die Nazi-Verbrechen für die Erschaffung eines neuen aus den Trümmern eines alten Landes von entscheidender Bedeutung gewesen sei: »Diese gewisse Stille war das sozialpsychologische und politische nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland.« Monica Black zieht diesen Schleier weg und zeigt uns ein tief traumatisiertes, in vielen Zügen hysterisches und abergläubisches Land. Bis in manche Besprechung ihres Buches hinein – etwa auf Deutschlandfunk Kultur – ist zu spüren, wie sehr diese Dämonenzeit immer noch bemäntelt und verkleinert wird. So wie die Vereinigten Staaten von Amerika ein bis heute ungelöstes Problem mit der gewalttätigen Raubgeschichte ihres eigenen Landes haben, so haben auch wir unsere Geister im Keller. Und tief in der Kultur. – Ein wichtiges Buch.
Alf Mayer (Foto: © Kelli/GO Photo)
Monica Black: Deutsche Dämonen. Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland (A Demon-Haunted Land: Witches, Wonder Doctors, and the Ghosts of the Past in Post-WWII Germany, 2021). Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 432 Seiten, 26 Euro.