»Anora«, der Gewinner der Goldenen Palme bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes, kam gerade in die hiesigen Kinos. Nun Folgt im Dezember der Gewinner des zweitwichtigsten Preises, des Grand Prix der Jury, und der Unterschied zwischen beiden Filmen könnte kaum größer sein. Ist »Anora« blendendes Unterhaltungskino, so glaubt man gerade zu Beginn von »All We Imagine as Light«, einen Dokumentarfilm zu sehen.
Bevor der Film mit der Geschichte von Prabha (Kani Kusruti), der Pflegerin in einem Krankenhaus, beginnt, gönnt er uns Zuschauern einen ausgiebigen Blick auf das morgendliche Treiben in den Straßen von Mumbai. Dazu hören wir verschiedene Kommentare der Einwohner. In Mumbai gebe es Arbeit und Geld, heißt es, und ein Mann sagt, er lebe seit Jahren in Mumbai, aber sehe es nicht als sein Zuhause an und werde eines Tages weggehen.
Als Prabha schließlich ins Bild kommt, steht sie in einer Vorortbahn, die sie zu ihrem Arbeitsplatz bringt. Sie wird als eine ruhige, beobachtende Person gezeigt, die erst im Krankenhaus unter ihren Kolleginnen redet, aber auch dort distanziert bleibt. Prabha leidet unter der Last einer arrangierten Ehe und nicht nur das. Kurz nach der Hochzeit hat sich ihr Ehemann nach Deutschland abgesetzt, um Geld zu verdienen. Seither hat er nichts mehr von sich hören lassen.
Ein ziemlich teuer ausschauender Reiskocher »made in Germany« scheint ein Geschenk von ihm zu sein, allerdings in einem Paket ohne Absenderangabe. Als Prabha ihren Stolz überwindet und einen Anruf versucht, hört sie die deutsche Durchsage, dass es unter dieser Nummer keinen Anschluss gebe.
Um Miete zu sparen, wohnt Prahba mit der jüngeren, unternehmungslustigen Anu (Divya Prabha) zusammen, die auch als Krankenschwester in demselben Hospital arbeitet. Ihre Eltern suchen einen Bräutigam für sie, und Anu weiß nicht, wie sie das abwenden kann. Denn sie ist in den Muslim Shiaz (Hridhu Haroon) verliebt, was unter den hinduistischen Kolleginnen für Empörung sorgt. Sogar in der Großstadt bleiben die traditionellen Bindungen mit ihren Einschränkungen bestehen. Und es sind ganz besonders die Frauen, die unter ihnen zu leiden haben.
Erst aus der Distanz ist zu erkennen, dass sich Regisseurin Payal Kapadia drei Generationen als Beispiele weiblicher Schicksale herausgesucht hat. Denn ihre ruhige Erzählweise wirkt auf den ersten Blick zufällig. Doch für die ältere Generation steht die Krankenhausköchin Parvaty (Chhaya Kadam), eine Witwe, die aus ihrer Wohnung geklagt wird, weil das einfache Mietshaus komfortablen Wohnungen Platz machen soll. Selbstverständlich bietet Prabha ihre Hilfe an.
Mumbai sei die Stadt der Illusionen, heißt es einmal und »Es gibt hier eine Regel: Selbst wenn du in der Gosse lebst, darfst du nicht wütend werden.« Die Stadt ist problematisch, und so reisen die drei Frauen an die Küste. Anu findet mit ihrem nachgereisten Liebhaber in einem nahegelegenen Wald endlich ein ruhiges Plätzchen, und Prabha rettet einem Mann, der aus dem Meer gefischt wurde, das Leben. Von einer Botschaft zu sprechen geht sicherlich zu weit, denn für keine der drei Frauen wird irgend ein Problem endgültig gelöst.
Nach den 1980er Jahren, in denen Mrinal Sen den indischen Arthouse-Film auf der Berlinale und anderen Festivals bekannt machte, hat jetzt Payal Kapadia Cannes erobert. Mit einem poetischen Realismus lenkt sie unseren Blick auf das Schicksal dreier Frauen, deren Probleme sowohl aus der Tradition als auch aus der modernen Globalisierung entstehen. Kapadia lässt es nicht dabei bewenden, denn auch die männlichen Protagonisten in diesem bemerkenswerten Film werden gehindert, ein glückliches Leben zu führen.