Dieser Film ist ein kleines Wunder. Denn er kommt ohne große visuellen Effekte, ohne dramatische Zuspitzungen, ohne Sex, ohne Crime und all die Sensationen aus, die das Mainstream-Kino gewöhnlich für uns bereit hält. Er erzählt eine einfache Geschichte von einem Vater und seinem kleinen Sohn, denen nur noch eine kurze Zeit des Zusammenseins geblieben ist,
und er ist dabei beeindruckend wie wenige Filme.
Eine kleine Zeitungsnotiz aus Nordirland hat Regisseur Uberto Pasolini mithilfe eigener Recherchen zu diesem Film verarbeitet. Nordirland ist hier unbelastet von den irisch-britischen Problemen der politischen Nachrichten. Es bildet vielmehr die Kulisse für eine universell gültige Erzählung.
John (James Norton) und der vierjährige Michael (Daniel Lamont) leben in einfachen Verhältnissen. John ist Fensterputzer, und wie er bei seiner Arbeit von draußen in die Zimmer hineinschaut, das kennzeichnet ihn schon als einen Außenstehenden, als einen, der nicht so recht dazugehört.
Wenn John nicht arbeitet, beschäftigt er sich liebevoll mit seinem vierjährigen Sohn. Es scheint beiden Spaß zu machen, wenn sie zum Spielen in den Park gehen, wobei in der Regel für jeden ein Eis herausspringt. Michael liebt es, vorgelesen zu bekommen. Dazu weckt er seinen länger schlafenden Vater auch mal, indem er Bilderbücher auf die Bettdecke wirft. Der brummt nur ein wenig und fügt sich in sein Schicksal.
Immer wieder besuchen Vater und Sohn Ehepaare, die offensichtlich bereit sind, ein Kind zu adoptieren. Da auch eine Sozialarbeiterin mit dabei ist, wird schnell klar, dass John für den ahnungslosen Michael Adoptiveltern sucht. Dabei kommen beide doch sehr gut miteinander aus. Hängt es daran, dass John alleinerziehend ist?
Es ist eines der wenigen Spannungselemente, die sich der Film leistet, und er löst das Rätsel ganz unauffällig, gewissermaßen nebenbei im Vorbeigehen, ohne dass es – mit entsprechender Musik beispielsweise – dramatisiert würde: John ist sterbenskrank, er hat Krebs und nur noch kurze Zeit zu leben.
Der nahende Tod steht aber nicht im Vordergrund, er liefert gewissermaßen den Punkt, von dem aus zwei Leben betrachtet werden. Und weil der Film nicht mit dem medizinischen Todesurteil beginnt, wie etwa Yasujiro Ozus meisterhaftes Drama »Ikiru – Einmal wirklich leben« «, das zweifellos Pate gestanden hat, lässt er den Zuschauern Zeit, sich mit den Protagonisten zu identifizieren. Oder anders ausgedrückt: Aus den Filmfiguren werden gute Bekannte, die wir in der Realität ja auch bei ganz alltäglichen Tätigkeiten beobachten würden. So zieht »Nowhere Special« die Zuschauer in das Geschehen hinein, und so bekommt das Geschehen eine ungeheure Intensität.
Wenn die restliche Lebenszeit nur kurz bemessen ist, fragt sich der Betroffene, wie er sie nutzen soll. Die Sinnfrage erhält also eine besondere Bedeutung. Für John ist die Antwort klar und doch schwer zu verkraften: Er will für seinen Sohn ein liebevoller Vater sein und seine künftige Abwesenheit gut vorbereiten. Deshalb vermeidet er auch, ihm zu erklären, warum sie die vielen Ehepaare besuchen. Er will ihn beschützen, ohne ihn zu belügen.
Denn es gibt ein weiteres Problem: Michaels Mutter hat die Familie kurz nach der Geburt des Sohnes im Stich gelassen. Michael ist also bereits einmal verlassen worden. Das erklärt auch, warum der Junge so sehr an seinem Vater hängt und ihm so gut wie keine Schwierigkeiten macht.
Man fragt sich, welche Ersatzeltern würde man selbst wählen? Die wohlhabenden, die Michael gleich vom Elite-Kindergarten in die Elite-Schule und darauf in die Elite-Uni schicken würden? Sicherlich nicht das Paar, das ein Kind wie ein neues Möbelstück fürs teure Heim sucht.
Die zugeteilte Sozialarbeiterin nimmt sich viel Zeit, mehr als sie sich eigentlich für »diesen Fall« nehmen dürfte. Zwischendurch scheint das Problem unlösbar zu werden. Denn es ist nicht mit dem Verstand, sondern nur aus dem Gefühl heraus zu lösen. Doch am Ende des Ganges – und das ist durchaus wörtlich zu nehmen – wird Michael ein warmherziges Zuhause bekommen.
Um dieses Wunderwerk von einem Film zu ermöglichen, dürfte es hilfreich gewesen sein, dass Uberto Pasolini ein erfahrener Produzent ist, der nur in besonderen Fällen ein eigenes Drehbuch in Szene setzt. Seine letzte Regiearbeit hat er 2013 vorgelegt. Sie hieß »Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit«, und sie bleibt unvergessen. Auch da spielte der Tod eine wichtige Rolle, denn dieser Mr. May war ein Bestatter, der einsam Verstorbene bei deren Familie und ehemaligen Freuden wieder in Erinnerung brachte. Auch damals hatte Pasolini wunderbare Darsteller gefunden. Denn ein eindrucksvoller Film lebt nicht zuletzt von seinen glaubwürdigen Darstellern, seien es Profis oder Amateure.
In »Nowhere Special« überzeugt der kleine Daniel Lamont als Michael weit über den üblichen Kinderbonus hinaus, und der famose James Norton behauptet sich mehr als achtbar neben ihm. Es heißt, dass die beiden nach den Dreharbeiten befreundet geblieben sind. Auch das wäre eine herzerwärmende Geschichte.
Claus Wecker