Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, welche Faszination Paris in den Sechzigern und Sieb-zigern des vergangenen Jahrhunderts besaß. Es war mit seinen Straßencafés, Kinos, Theatern und Nachtclubs, kurz: mit seinem ganzen Lebensstil, ein einzigartiges kulturelles Zentrum. Westdeutsche Studenten setzten sich in ihre klapprigen 2CVs oder R4 und brachen zu einem Kurzurlaub auf. Doch noch viel beeindruckender war die Stadt für die wenigen privilegierten »Kulturschaffenden« aus den sozialistischen Staaten, die sie unter strenger Aufsicht besuchen durften.
Einer von ihnen war der Balettvirtuose Rudolf Nurejew, der den Mächtigen in der Sowjetunion die Gelegenheit bot, in einem weiteren Versuch die Überlegenheit des Sozialismus zu demonstrieren. Zusammen mit dem Leningrader Kirow-Ballett, das heute Mariinski-Ballett genannt wird, schickten sie ihn 1961 nach Paris, wo er die Pariser Zuschauer begeistern sollte. Doch wie allgemein bekannt, hatte die geplante Publicity-Aktion den gegenteiligen Effekt. Nurejew erlag der Faszination des Westens.
Dem Regisseur Fienes zeichnet in seiner dritten Regiearbeit Nurejews Porträt als das eines jungen Mannes, der sich seines Wertes durchaus bewusst ist. Nurejew hat alle Attribute eines Aufsteigers: arme Eltern, das unscheinbare Außenseiter-Auftreten als Junge, was ihn im zentralrussischen Ufa zu einer »weißen Krähe« macht. Dazu kommen märchenhafte Ereignisse: die Geburt in der transsibirischen Eisenbahn und der durch einen Lotteriegewinn seiner Mutter ermöglichte Besuch einer Ballettaufführung, der ihn begeistert und mit dem Wunsch infiziert, selbst als Tänzer berühmt zu werden.
Für die Rolle Nurejevs hat Fiennes in dem ukrainischen Weltklassetänzer Oleg Ivenko einen überzeugenden Darsteller gefunden. Er wirbelt nicht nur atemberaubend über die Bühne, sondern überzeugt auch als selbstbewusster Star, obwohl es ihm an schauspielerischer Erfahrung mangelt. Fiennes tritt selbst als Nurejews Mentor Alexander Puschkin am Choreographischen Institut Leningrad auf, um seiner Regiearbeit zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Puschkin nimmt Neuling Nurejew sogar in sein Haus auf und toleriert dessen Affäre mit seiner Frau Ksenija (Chulpan Khamatova). Der stille Dulder entspricht ja sowieso Fiennes‘ zurückhaltender Art, die ihn von den meisten bekannten Schauspielerkollegen wohltuend unterscheidet.
Drehbuchautor David Hare, der Oscar-Nominierungen für »The Hours« und »Der Vorleser« vorweisen kann, hat das Buch »Rudolf Nureyev: The Life« von der Tanz-Expertin Julie Kavanagh adaptiert. Wie in den genannten Filmen erzählt er auch diesmal nicht linear, und so entsteht ein Persönlichkeitspuzzle mit einem ganz eigenen Reiz.
Hare und Fiennes malen die Sowjetunion nicht so schwarz, wie etwa Bruce Beresford das kommunistische China in »Maos letzter Tänzer« geschildert hat, ihnen geht es um Nurejews Freiheitsdrang, der mit wachsendem Ruhm immer stärker wird. Er wirft auch mal einen Funktionär, der seine Proben begutachten will, aus dem Saal, akzeptiert nicht jeden Ballettmeister und hat bald die Allüren einer Diva.
In Paris strapaziert er die Geduld seines bemühten Aufpassers, des KGB-Agenten Strischewsky (Alexey Morozov), wenn er sich ständig von der Leningrader Gruppe absetzt und mit der an ihm interessierten Clara Saint (Adèle Exarchopoulos) durch die Pariser Museen und Jazz-Clubs zieht. Sie führt den Ballettstar auch in die feine Gesellschaft der Stadt ein. Ihr Verhältnis bleibt aber wohl platonisch, während man das von der Beziehung zu dem deutschen Tänzer Teja (Louis Hofmann) nicht behaupten kann.
Als Nurejew schließlich vor der Entscheidung steht, mit seiner russischen Truppe wieder zurückzufliegen oder die Brücken zu seiner Vergangenheit abzubrechen und in den Westen überzulaufen, hat Fiennes dies wie einen klassischen Spionagethriller inszeniert. Und obwohl man den Ausgang der Geschichte kennt, sitzt man gebannt vor der Leinwand.