Ausgelassener Jubel auf den Straßen von Paris, weniger aggressiv als am Anfang von »Die Wütenden – Les Misérables«. Dort ging es um Fußball, hier wird der Sieg von François Mitterrand bei der Präsidentschaftswahl am 10. Mai 1982 gefeiert. Es herrscht Aufbruchsstimmung bei den Sozialisten, die sich die Ablösung von Präsident Valéry Giscard d’Estaing erhofft hatten. Nach diesem Einstieg wendet sich der Film mit dem poetischen Titel dem Leben in der Stadt zu und entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Der in Paris geborene Mikhaël Hers, der sich mit dem bewegenden Meisterwerk »Mein Leben mit Amanda« schon einen Platz im Olymp der Filmemacher erobert hat, erzählt eine unspektakuläre Geschichte (Co-Autoren: Maud Ameline, Mariette Désert) aus dem 15. Arrondisment der Hauptstadt.
Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) ist nach einer glücklich verlaufenen Krebstherapie von ihrem Ehemann verlassen worden. 1984 muss sie sich mit ihren zwei beinahe erwachsenen Kindern durchschlagen. Mathias (Quito Rayon Richter), der ein Dichter werden will, geht noch zur Schule, seine Schwester Judith (Megan Northam) studiert bereits.
Die Arbeitssuche gestaltet sich für die bisherige Hausfrau schwierig. Am ersten Probetag hat Elisabeth vergessen, das Ergebnis ihrer Bemühungen zu speichern, und so den Job gleich wieder verloren. Sie landet schließlich am Telefon einer Radiostation, wo die beliebte Sendung »Les passagers de la nuit« aufgenommen wird. Weil die Stelle gerade freigeworden ist, soll sie die nächtlichen Anrufe mitteilungbedürftiger Hörerinnen und Hörer an die Moderatorin im Studio weiterleiten oder, wenn sie den Anruf als unseriös erkennt, abblocken.
Auf ihrem Heimweg trifft sie auf die hübsche, junge Herumtreiberin Talulah (Noée Abita), der sie eine Abstellkammer unter dem Dach ihres Wohnhauses als Unterkunft für ein paar Tage anbietet. Natürlich ist dies eine soziale Tat, doch Elisa-beth scheint Talulah eher aus Mitleid aufzunehmen, und die Familie hat ein neues Mitglied.
Die mit ihren vollen Lippen verführerisch wirkende Talulah ist zunächst schüchtern, zieht aber bald die Aufmerksamkeit von Mathias auf sich. Parallel zu dieser Romanze erlebt Elisabeth ein flüchtiges Abenteuer und lernt bei ihrem Zweitjob als Bibliotheksangestellte einen Mann kennen, der zu einer festeren Bindung bereit scheint.
Es gibt nur wenige Filme, die so mächtig zum Mitgefühl einladen, wie dies bei »Passagiere der Nacht« der Fall ist. Beispielsweise hoffe ich, immer wenn ich Eric Rohmers »Im Zeichen des Löwen« sehe, der in Paris auf eine Erbschaft wartende und dabei ziemlich heruntergekommene Amerikaner Pierre möge die Sardinendose nicht so öffnen, dass er sich dabei seine letzte ordentliche Hose bekleckert. Talulah, Mathias und Judith sehen ihrerseits Rohmers »Vollmondnächte«, als sie gemeinsam ins Kino gehen.
»Passagiere der Nacht« ist auch ein Ensemblefilm mit vielen Identifizierungsmöglichkeiten. In seinem Zentrum steht Charlotte Gainsbourg, die mal zögerlich, mal bestimmt und mit unglaublicher Wärme ihre Rolle interpretiert. Und er spielt nicht wie Tausende von Parisfilmen in den gediegenen Altbauvierteln, sondern am Quai de Grenelle, in den modernen Wohnsilos, die (noch) nicht zu sozialen Problemfällen geworden sind.